Praxishandbuch Medien-, IT- und Urheberrecht. Anne Hahn
stellt sowohl den verfassungsrechtlichen als auch den einfachgesetzlichen Rundfunkbegriff vor ein Strukturproblem. Dem angemessen Rechnung zu tragen ist Aufgabe des europäischen und deutschen Gesetzgebers. Auf Verfassungsebene könnte ein möglicher Lösungsansatz in der Schaffung eines einheitlichen Mediengrundrechts liegen, welches die bisherige Differenzierung zwischen den medialen Gattungen aufgibt.[72] Auf europäischer Ebene hat man sich der Herausforderung einer konvergierten Medienordnung mit der AVMD-Richtlinie[73] gestellt.[74] Diese stand auch im Mittelpunkt des Grünbuchs über die Vorbereitung auf die vollständige Konvergenz der audiovisuellen Welt, das die Europäische Kommission im April 2013 veröffentlicht und zugleich alle interessierten Kreise um Stellungnahme gebeten hat.[75] Ziel des Grünbuchs war die Anregung einer öffentlichen Debatte über die Auswirkungen des gegenwärtigen Wandels der audiovisuellen Medienlandschaft, die durch ein fortschreitendes Zusammenwachsen herkömmlicher Rundfunkdienste mit dem Internet[76] geprägt ist.[77] Nach der Vorstellung der Kommission soll die stetig fortschreitende Konvergenz genutzt werden, um allen Europäern einen möglichst umfassenden Zugang zu vielfältigen europäischen Inhalten zu bieten und eine möglichst große Palette hochwertiger Angebote zu gewährleisten. Häufig sei der Zugang zu solchen Diensten aufgrund geografischer Beschränkungen nicht oder nur eingeschränkt möglich, was, angesichts eines Zuschauerpotenzials von über 368 Mio. Internetnutzern in der EU, allein aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten der Änderung bedürfe.[78] Als wichtigste Faktoren für die Nutzung dieses durch den europäischen Binnenmarkt hervorgebrachten Potenzials nennt die Kommission einen für Wachstum hinreichend großen Markt, ein von Wettbewerb geprägtes Umfeld, die Bereitschaft zur Anpassung vorhandener Geschäftsmodelle, Interoperabilität, insbesondere im Hinblick auf Hybridfernsehgeräte, sowie eine geeignete Infrastruktur.[79] Insbesondere durch die EU-Wettbewerbsregeln müsse sichergestellt werden, dass in einer immer stärker konvergierenden Medienwelt ein flexibler, effektiver Markt möglich sei.[80] Dabei sei auch zu prüfen, ob es Anzeichen für Markverzerrungen gebe, die auf die Unterscheidung zwischen linearen und nichtlinearen Diensten[81] zurückzuführen sei.[82] Ferner sei auch den Veränderungen im Verbraucherverhalten hin zu nutzergenerierten Inhalten, welche von den Rundfunkveranstaltern in ihr lineares Programm integriert werden könnten, Rechnung zu tragen.[83] Besonders wichtig sei, dass der Zugang zu „Inhalten von allgemeinem Interesse“ gewährleistet bleibe. Dabei sei zu überlegen, ob angesichts zunehmender Filter- und Personalisierungsmechanismen weitergehende europäische Regelungen zur Sicherung der Meinungsvielfalt und Medienpluralität erforderlich seien.[84] Letztlich besteht das Anliegen der Kommission also darin, die Vorzüge der Konvergenz auf europäischer Ebene zu nutzen, ohne dabei die Achtung derjenigen Werte, die der europäischen Regulierung audiovisueller Mediendienste zugrunde liegen, zu vernachlässigen. So seien namentlich die Förderung der Meinungsfreiheit und des Medienpluralismus, die Förderung der kulturellen Vielfalt und der Schutz personenbezogener Daten sowie der Verbraucherschutz, u.a. schutzbedürftige Personen wie Minderjährige oder Personen mit Behinderungen durch angemessenes politisches Handeln zu fördern.[85]
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Im Herbst 2017 stellen sich die Überlegungen zur Novellierung der AVMD-Richtlinie durch Kommission, Parlament und Rat wie folgt dar:[86]
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Gemeinsame Überlegungen
Die Beibehaltung des Typus der Richtlinie zur EU-weiten Regulierung audiovisueller Dienstleistungen ist zwischen den EU-Organen ebenso wenig streitig wie die Wahrung einer Mindestharmonisierung, die einer strengeren Regulierung auf Ebene der Mitgliedsstaaten bzw. ihrer nach der Verfassungsordnung zuständigen Ebene nicht entgegensteht. Auch besteht, bei divergierenden Auffassungen im Detail, welche nachfolgend erläutert werden, Einigkeit darüber, den Anwendungsbereich der AVMD-Richtlinie zu erweitern. So soll die Richtlinie auch auf den trennbaren Teil einer Dienstleistung Anwendung finden.[87] Diese Ausrichtung bewegt sich im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH, der entschieden hat, dass sich der Hauptzweck eines audiovisuellen Mediendienstes nicht notwendigerweise auf den gesamten Dienst beziehen muss, sondern dass in Zeiten von Multimedia-Angeboten auch Teilangebote durchaus einen Hauptzweck erfüllen können.[88]
EU-Kommission
Die regulatorische Trennung in linear und non-linear wird nach den Vorstellungen der Kommission nicht gänzlich aufgehoben, aber im linearen Bereich – insbesondere bei den quantitativen Werbebestimmungen – weniger bedeutsam (s. u.). Gleichzeitig sollen die unterschiedlichen Bestimmungen im Bereich des Jugendschutzes aus dem linearen wie non-linearen Bereich angeglichen werden. Insbesondere mit Blick auf die Absicherung von Jugendschutzstandards und der Menschenwürde wird eine Einbeziehung von Video-Sharing-Plattformen in den Anwendungsbereich angestrebt, wobei die Erfüllung der neuen Anforderungen maßgeblich durch den Einsatz von Verhaltenskodizes/Ko-Regulierung gewährleistetwerden sollen. Die Haftungsbestimmungen der E-Commerce-Richtlinie sollen unberührt bleiben.[89]
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Quantitative Werbevorgaben: Die EU-Kommission strebt eine stärkere Liberalisierung bzw. Flexibilisierung der quantitativen Werbevorgaben an. Einzelspots (Single-Spots) sollen – ohne Einschränkung – möglich sein. Eine Unterbrechung von Fernseh- und Kinospielfilmen sowie Nachrichtensendungen durch Werbung soll künftig alle 20 anstatt wie bisher alle 30 Minuten möglich sein. Anstatt der ursprünglichen 20 % per Stunde soll der Werbeanteil nun innerhalb des Zeitraums von 7:00–23:00 Uhr 20 % nicht übersteigen. Dies würde zu einer Flexibilisierung der zeitlichen Werbebeschränkungen führen. Zudem sollen die Möglichkeiten der Eigenwerbung ausgeweitet werden.
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Qualitative Werbevorgaben: Der Entwurf enthält zwar keine gesetzlichen Verschärfungen im produktspezifischen Werbebereich. Durch Ko- und Selbstregulierungsmaßnahmen, insbesondere im Bereich der HFSS-Lebensmittel und der alkoholischen Getränke, soll allerdings das Maß, in dem Minderjährige entsprechenden Werbespots ausgesetzt sind, reduziert werden.[90]
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Sponsoring soll künftig einen stärkeren werblichen Charakter haben dürfen. Das derzeitige Verbot mit Erlaubnisvorbehalt von Produktplatzierungen soll in eine generelle Erlaubnis umgewandelt werden. Ausgenommen hiervon sollen jedoch Nachrichten-, Verbraucher- und religiöse Programme und Programme mit einem signifikanten Kinderzuschaueranteil sein. Darüber hinaus soll u.a. die Vorgabe, dass ein Produkt nicht zu stark beworben werden soll, entfallen.[91]
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Der Entwurf sieht ferner eine Verschärfung der Vorgaben zur Förderung europäischer Werke im non-linearen Bereich vor. Hier soll eine 20 %-Quote bei gleichzeitiger prominenter Darstellung dieser Werke sichergestellt werden. Darüber hinaus sollen die Mitgliedstaaten Vorgaben für finanzielle (Produktions-)Beiträge, inkl. nationale Fördersysteme, erlassen können. Explizit erwähnt wird, dass auch Anbieter mit einer Niederlassung im Ausland einbezogen werden können, solange diese den inländischen Markt bedienen.[92]
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Der Entwurf der Kommission sieht zudem eine Streichung des Art. 7 hinsichtlich der Bestimmungen zur Barrierefreiheit vor, da der horizontale RL-Vorschlag der EU-Kommission von Ende 2015 bereits strengere Vorgaben enthalte.[93]
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Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden: Die ERGA (European Regulators Group for Audiovisual Media Services) wird durch die Revision formal eingesetzt und als Beratungsgremium der EU-KOM deutlich gestärkt. Die Richtlinie soll mit Blick auf die Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden zudem künftig Kriterien wie Transparenz, ausreichend finanzielle und personelle Mittel etc. enthalten.[94]
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CULT (EP) – Berichtsentwurf Kammerevert/Verheyen[95]
Der Entwurf sieht hinsichtlich der qualitativen Werbebestimmungen eine Änderung des Flexibilisierungsmodells im Verhältnis zum KOM-Vorschlag vor. Neben der Werbezeitbeschränkung auf 20 % im Zeitraum von 7.00–23.00 Uhr (=KOM-Vorschlag) wird im Final Report des EP eine weitere Beschränkung innerhalb eines dem jeweiligen Mitgliedstaat anheimgestellten vierstündigen Zeitfensters zur „Primetime“ vorgesehen. Mit Blick auf das