Praxishandbuch Medien-, IT- und Urheberrecht. Anne Hahn
gerichtet sind, nicht um Rundfunk i.S.d. Rundfunkstaatsvertrags, sondern um Telemedien. Es stellt sich indes die Frage, ob das regulatorische Sonderregime des Rundfunks angesichts der zunehmenden Vermischung von linearen und nicht-linearen Angeboten, deren Inhalte sich häufig überschneiden, noch gerechtfertigt ist.[116] Sofern man von der Notwendigkeit ausgeht, ein dem konvergenten Zeitalter angepasstes Grundrecht der Medienfreiheit zu schaffen, müsste folgerichtig auch die einfachgesetzliche Medienordnung gattungsübergreifend im Sinne eines „level playing field“[117] angepasst werden. Die Abschaffung einer abgestuften Regulierung wäre hiermit nicht verbunden. Allerdings sollte der Umfang der Regulierung nicht – wie bislang – von der Zugehörigkeit zu bestimmten Mediengattungen abhängig gemacht werden. Vielmehr sollte insoweit an die Meinungsrelevanz bzw. das Gefährdungspotenzial der dargebotenen Inhalte angeknüpft werden.[118] Unter diesen Voraussetzungen wäre auch eine Regulierung des Internets denkbar und angesichts des teils erheblichen meinungsbildenden Einflusses sogar dringend geboten.[119] Nur durch ein inhaltliches Differenzierungskriterium, welches sich von den herkömmlichen Medienkategorien löst, kann der außerordentlichen Dynamik dieses Regulierungsgegenstandes Rechnung getragen werden.
2.2.2.3 Reformwille bei Streaming TV im Internet – Anzeigepflicht anstatt Lizenz
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Das Reformerfordernis des Rundfunkbegriffs wurde 2017 insbesondere im Zusammenhang mit dem Streaming-TV im Rahmen von DKB-Livestreams zur Übertragung der Handballweltmeisterschaft und des Gameangebots PietSmiet TV auf Twitch.TV diskutiert, wo bis zur Androhung der Untersagung der Dienste mangels Rundfunklizenz durch die Landesanstalt für Medien NRW gemeinsames Onlinespielen sowie Weltmeisterschaftsspiele live ausgestrahlt und kommentiert wurden.[120] In diesem Zusammenhang wird in der Literatur zu Recht die starre Fixierung des Rundfunkbegriffs an die Linearität der Ausstrahlung und deshalb ein Reformbedarf des Rundfunkstaatsvertrages angemahnt.[121] Zu weitgehend dürfte es wohl aber sein, das Lizenzerfordernis für Web-TV insgesamt unter Hinweis auf das Zensurverbot für verfassungswidrig zu erklären, weil die Sondersituation der Rundfunkregulierung mit dem Wegfall der Frequenzknappheit entfallen sei, so dass die positive Ausgestaltung des Rundfunks aus Gründen der Vielfaltssicherung nicht mehr erfolgen müsse.[122] Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesverfassungsgericht diese Sondersituation trotz eines Wegfalls der Frequenzknappheit noch berücksichtigt.[123] Ungeachtet dessen ist die Kritik in der Sache begründet und eine Reform des Rundfunkstaatsvertrages für Streaming-TV dringend angezeigt. So könnte der Gesetzgeber im Anschluss an die schon bestehende Sonderregelung für den Internethörfunk, der nach § 20a RStV allein in einer Anzeigepflicht besteht, den Rundfunkstaatsvertrag um eine Anzeigepflicht für Streaming-TV ergänzen. Hier müsste der Gesetzgeber schon auf der Ausgestaltungsseite von Art. 5 Abs. 1 GG etwa mit Blick auf Größe, konzentrationsrechtliche Fragen, Reichweite und Meinungsrelevanz und wirtschaftliche Bedeutung differenzieren.[124] Im Ergebnis würde im Rahmen der Reform des Rundfunkbergriffs, die Gegenstand des 22. Rundfunkänderungsstaatsvertrages sein könnte, für Internetfernsehangebote das Lizenzerfordernis aufgehoben. Dieser durch die Verfahrensvereinfachung gegenüber dem „Youtubern“ gewährte Vertrauensvorschuss scheint mit Blick auf die im Internet nicht mehr relevante Frequenzknappheit und die geänderte Lebenswirklichkeit des „Jedermann-Rundfunks“ angemessen, wenn den Landesmedienanstalten mit Blick auf die Durchsetzung der Schranken der Meinungsfreiheit ein angemessenes Sanktionsinstrumentarium zur Verfügung gestellt wird, das gerade wegen des Jugendschutzes oder den Vorschriften zur Werberegulierung dringend erforderlich ist.
3. Meinungsfreiheit
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In Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG ist vor der Klammer der medienbezogenen Grundrechte die individuelle Meinungsfreiheit im Sinne eines subjektiven Rechts erwähnt. Sie wird als unmittelbarster „Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft“ und „in (einem) gewissen Sinn (als) die Grundlage jeder Freiheit überhaupt“[125] verstanden. Der Meinungsfreiheit kommt also eine grundlegende Funktion im Rahmen der Rundfunkfreiheit zu.[126] Sie liegt allen Kommunikationsfreiheiten zugrunde und steht gem. Art. 19 Abs. 3 GG neben natürlichen auch juristischen Personen zu, weil die Ausübung der Meinungsfreiheit für Medienunternehmen als juristische Personen des Privatrechts nicht nur elementar, sondern aufgrund ihrer Natur gerade auch auf Unternehmen zugeschnitten ist.[127] Pendant der Meinungsfreiheit ist die ebenfalls in Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG garantierte Informationsfreiheit, welche sich jedoch nur auf allgemein zugängliche Quellen erstreckt. Allgemein zugänglich sind Informationsquellen, die technisch dazu geeignet und bestimmt sind, nicht einem Einzelnen, sondern der Allgemeinheit Informationen zu verschaffen.[128] Eine Informationsquelle kann auch ein Ereignis selbst sein, so dass es also nicht auf die technische Weiterverbreitung ankommt. Geschützt ist ferner die Unterrichtung aus Quellen im Ausland, wobei sich der Grundrechtsträger selbst im Inland befinden muss.[129]
3.1 Schutzbereich
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Vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit sind sowohl die Bildung als auch die Äußerung einer bestimmten Auffassung gedeckt. Auf den Wert einer Meinung kommt es nicht an.[130] In diesem Zusammenhang stellen sich in der Praxis Probleme bei der Abgrenzung zwischen Werturteilen und Tatsachenbehauptungen.[131] Die Meinungsfreiheit erfasst das Äußern und Verbreiten von Werturteilen. Dies sind stellungnehmende, dafürhaltende, meinende Äußerungen ohne Berücksichtigung von Wert, Richtigkeit oder Vernünftigkeit,[132] die auch scharf und überspitzt sein können.[133] Tatsachenbehauptungen – mit Ausnahme bewusst unwahrer Behauptungen – werden von der Meinungsäußerungsfreiheit dann geschützt, wenn sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sind.[134]
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Das BVerfG räumt der Meinungsfreiheit, „als Grundlage jeder Freiheit überhaupt“[135] einen äußerst hohen Stellenwert ein. Im Verhältnis zu den Persönlichkeitsrechten, die über die Schrankenbestimmung des Art. 5 Abs. 2 GG geschützt sind, spricht im geistigen Meinungskampf „die Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede.“[136]
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Der Satz, wonach Karlsruhe der Meinungsfreiheit im Zweifel den Vorrang vor den Persönlichkeitsrechten einräumt, ist an der Entscheidung des EuGH zu Google/Spain[137] zu messen, die den durch das BVerfG für das Verhältnis von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechtsverletzung stets vertretenen Grundsatz „Im Zweifel für die Meinungsfreiheit“ für die Informationsfreiheit im Internet umgekehrt hat. Wegen der Ubiquität des Internets räumt der EuGH den Persönlichkeitsrechten nach der EU-Grundrechtecharta allgemein den Vorrang vor der Informationsfreiheit ein.[138] Da die Informationsfreiheit die Kehrseite des Rechts auf Meinungsfreiheit darstellt, spricht alles dafür, dass der EuGH jedenfalls im Internet den Persönlichkeitsrechten auch einen allgemeinen Vorrang vor der Meinungsfreiheit einräumt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit das besonderes weitreichende Meinungsfreiheitsverständnis des BVerfG durch den Europäischen Gerichtshof eine einschränkende Korrektur erfahren hat.
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Exemplarisch für eine neue Dimension im Spannungsverhältnis zwischen Meinungs- und Kunstfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht ist der Fall Böhmermann/Erdogan, in dem es um Schmähkritik geht. Hinzuweisen ist hier auf die Beschlüsse des BVerfG aus den Jahren 2016 und 2017, wonach der Begriff der Schmähkritik wegen seines die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts eng zu verstehen ist. Die Hürden sind hier besonders hoch anzusetzen, weil bei Annahme einer Schmähung keine Abwägung mehr zwischen dem Persönlichkeitsrecht und der Meinungsfreiheit stattfindet, so dass bereits die Einordnung als Schmähkritik besonders sorgfältig und grundrechtssensibel vorzunehmen ist.[139] Im Kern geht es im Fall Böhmermann um einen Beitrag des Moderators in der Sendung Neo Magazin Royal und pointiert formuliert um das Verhältnis zwischen Satirefreiheit und Würde eines Staatspräsidenten, dem despotische Züge zugeschrieben werden. Der türkische Staatspräsident hatte vor einer Böhmermann-Sendung im Anschluss an einen satirischen Beitrag des TV-Magazins Extra 3 den deutschen Botschafter einbestellt