Verteidigung von Ausländern. Jens Schmidt
Der Verbotsirrtum kann aus der (völligen) Unkenntnis einer bestehenden Norm resultieren. So billigte z.B. das LG Mannheim[4] einem Pakistani im Falle der unterlassenen Hilfeleistung einen unvermeidbaren Verbotsirrtum zu, da es im pakistanischen Recht an einem entsprechenden Straftatbestand fehle.
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Wesentlich häufiger wird jedoch der umgekehrte Fall gegeben sein, wonach der Ausländer an die Existenz eines im Heimatstaat geltenden Rechtfertigungsgrundes glaubt, dem die deutsche Rechtsordnung die Anerkennung verweigert – sog. „Erlaubnisirrtum“.
So steht z.B. nach türkischem Zivilrecht die Wahl der Ehewohnung ausschließlich dem Ehemann zu, so dass es – nach türkischem Recht – keine Freiheitsberaubung darstellt, wenn die Ehefrau gegen ihren Willen und unter Gewaltanwendung in die Wohnung des Ehemanns verbracht wird, um die von ihr verweigerte eheliche Lebensgemeinschaft herzustellen. Dem folgend lehnte das AG Grevenbroich[5] die Eröffnung des Hauptverfahrens ab.[6]
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Beruft sich der Mandant auf abweichende ausländische Rechtsvorschriften, sollte eine entsprechende Rechtsauskunft – z.B. beim Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht[7] – eingeholt werden; insoweit ist auch zu bedenken, dass abweichende Wertvorstellungen im Rahmen der Strafzumessung Bedeutung erlangen können (vgl. Rn. 244).
Anmerkungen
Laubenthal/Baier GA 2000, 205, 216.
Vgl. Berliner Morgenpost, „Bald Nackte an Italiens Stränden“, Freitag, den 24. März 2000.
Vgl. Laubenthal/Baier GA 2000, 205, 213.
LG Mannheim NJW 1990, 2212 f.
AG Grevenbroich NJW 1983, 528/529.
Vgl. auch Laubenthal/Baier GA 2000, 205, 213/214 mit weiteren Beispielen aus der unveröffentlichten Rechtsprechung.
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Günterstalstr. 73, 79100 Freiburg.
Teil 2 Materielles Ausländerstrafrecht › I. Besonderheiten im sog. Kernstrafrecht › 2. Besonderer Teil des Strafgesetzbuchs
a) Tötungsdelikte[1]
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Abweichende Wertvorstellungen spielen vor allem auch im Rahmen der Tötungsdelikte eine erhebliche Rolle.
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Zwar ist der Maßstab für die Bewertung eines Beweggrundes anhand der Vorstellungen der deutschen Rechtsgemeinschaft zu bestimmen;[2] wird jedoch der einem fremden Kulturkreis entstammende Täter von den Anschauungen seiner Heimat derart stark beherrscht, dass er sich von diesen aufgrund seiner Persönlichkeit und der gesamten Lebensumstände nicht lösen kann, kommt nach ständiger Rechtsprechung des BGH die Annahme niedriger Beweggründe i.S.d. § 211 StGB nicht in Betracht;[3] selbst eine Tötung aus Eifersucht[4], verletztem Ehrgefühl[5], Blutrache[6] oder zwecks Ausübung der Selbstjustiz[7] rechtfertigt dann nur eine Verurteilung wegen Totschlages.
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Die Bindung an entsprechende Wertvorstellungen kann daneben auch zur Unverhältnismäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe führen, so dass trotz der Verurteilung wegen Mordes auf eine zeitige Freiheitsstrafe erkannt werden kann;[8] erfolgt eine Verurteilung wegen Totschlages, können abweichende Wertvorstellungen schließlich auch die Annahme eines minder schweren Falles (§ 213 StGB) rechtfertigen.[9]
Anmerkungen
Vgl. auch Stern Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren.
Vgl. BGH NStZ 2002, 369, 370 m.w.N; BGH NStZ 2006, 284, 285.
BGH JZ 1980, 238 m. Anm. Köhler; BGH StV 1981, 399 f.; BGH StV 1994, 182; BGHR § 211 Abs. 2 StGB niedrige Beweggründe 29; vgl. auch BGH NJW 2004, 1466, 1467/1468; Momsen NStZ 2003, 237 ff.; anders aber, wenn ein unbeteiligter Dritter getötet wird, BGH NStZ-RR 2000, 168, oder frühere Strafverfahren – hier: versuchter Totschlag – gegen die Annahme sprechen, der Angeklagte habe die Wertvorstellungen der deutschen Rechtsgemeinschaft nicht erfasst BGH NStZ 2002, 369, 370; kritisch zur Rechtsprechung des BGH – unter Hinweis auf die moderne, medial vernetzte Welt – Renzikowski NJW 2014, 2539, 2542.
BGH StV 1981, 399 f.
BGH JZ 1980, 238 m. Anm. Köhler; vgl. auch Grünewald NStZ 2010, 1 ff.
BGHR § 211 Abs. 2 StGB niedrige Beweggründe 29; vgl. auch BGH NStZ 2006, 286, 288, wonach niedrige Beweggründe ausscheiden, sofern die Vergeltung aus „einer besonderen Belastungssituation infolge des Verlustes seiner wesentlichen Bezugsperson“ heraus begangen worden ist.
BGH StV 1994, 182.
BGH NJW 1983, 55 f.
BGH StV 1988, 341.
b) Pass-, Ausweis- und Urkundsdelikte
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Sehr häufig ist der Fall, dass ein Ausländer illegal in das Bundesgebiet einreist oder sich dort aufhält und dabei einen Pass oder amtlichen Ausweis mit sich führt, der nicht auf ihn, sondern eine andere Person ausgestellt ist. Der fremde Pass enthält in der Regel einen gültigen Aufenthaltstitel, oder der Inhaber des Passes ist von der Genehmigungspflicht befreit. Weist sich der Ausländer mit dem fremden Pass aus, begeht er neben dem ausländerrechtlichen Delikt (vgl.