Rechtsgeschichte. Susanne Hähnchen

Rechtsgeschichte - Susanne Hähnchen


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(Rn. 91, 108, 150 f). Daneben hatten aber auch zunehmend die Beschlüsse des Senates (senatus consulta) Gesetzeskraft (Rn. 87, 152).

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      Das römische Recht ist ohne das Prozessrecht noch viel weniger zu verstehen, als modernes Recht. Heutige Rechtsordnungen trennen schon äußerlich und haben verschiedene Gesetzbücher (insbesondere BGB und ZPO). Die Römer hatten keine solchen Kodifikationen. Sie dachten aktionenrechtlich (actio = Klage), d.h. vom Prozess bzw. der jeweiligen Klage ausgehend (Rn. 173) und trennten nicht scharf zwischen Privat- und Prozessrecht.

      Zunächst ein Blick in die rekonstruierten XII Tafeln (Rn. 51).[13] Das Prozessrecht stand an der Spitze (Tafel I-III). Die erste Tafel gibt einen groben Überblick über den Ablauf eines Prozesses:

      Tafel (tabula) I:

      (1) Si in ius vocat, ito. Ni it, antestamino. Igitur em capito.

      (2) Si calvitur pedemve struit, manum endo iacito.

      (3) Si morbus aevitasve vitium escit, iumentum dato. Si nolet, arceram ne sternito.

      (6) Rem ubi pacunt, orato.

      (7) Ni pacunt, in comitio aut in foro ante meridiem caussam coiciunto. Com peroranto ambo praesentes.

      (8) Post meridiem praesenti litem addicito.

      (9) Si ambo praesentes, solis occasus suprema tempestas esto.

       Übersetzung:

      (1) Wenn er [gemeint: der Kläger] vor Gericht ruft, muss er [gemeint: der Beklagte] gehen. Wenn er nicht geht, sollen sie Zeugen aufrufen. Danach soll er ihn ergreifen [der Kläger den Beklagten].

      (2) Wenn er [Bekl.] Ausflüchte macht oder sich sträubt [fliehen will?], soll er [Kl.] Hand an ihn legen [d.h. den Beklagten in die Gewalt nehmen].

      (3) Wenn er [Bekl.] an Krankheit oder Alter leidet, soll er [Kl.] ihm ein Reit- oder Zugtier [Fuhrwerk?] stellen. Wenn er nicht will, muss er einen Wagen nicht rüsten [mit Streu oder Decken versehen].

      (6) Wenn sie sich gütlich einigen, soll er [der Prätor] dazu sprechen.

      (7) Wenn sie sich nicht gütlich einigen, sollen sie die Sache in der Volksversammlung oder auf dem Markt verhandeln. Wenn sie vortragen, sollen beide anwesend sein.

      (8) Nach dem Mittag soll er [der Prätor] dem Anwesenden den Streit zusprechen.

      (9) Sind beide anwesend, soll der Sonnenuntergang der letzte Zeitpunkt [für die Verhandlung] sein.

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      In eckigen Klammern in die Übersetzung eingefügt sind schon Ansätze von Auslegung. Weitere Erklärungen: Ius bedeutet nicht nur „das Recht“ (Rn. 18), sondern meint hier den Gerichtsplatz. Die Ladung dorthin war – anders als heute – Sache des Klägers. Wollte er sein Recht einklagen, musste er erst einmal dafür sorgen, dass der künftige Beklagte auch vor Gericht kam (XII tab. 1, 1-3).

      Bemerkenswert ist an dieser Stelle die gütliche Einigung (pacere von pax = Frieden; pactum = Vereinbarung, Rn. 69), die der Prätor (Rn. 55, 80) vermutlich nur bekräftigte (XII tab. 1, 6). Eine friedliche, vernünftige Einigung ist für den dauerhaften Frieden zwischen ehemals Streitenden wertvoller als ein Urteil. Niemand fühlt sich unterlegen, was besonders wichtig ist, wenn man weiterhin zusammen leben muss bzw. will. Nur wenn sich Kläger und Beklagter nicht einigen konnten, begann eine gerichtliche Verhandlung (XII tab. 1, 7). Wenn zu dieser dann (trotz gegenseitigem Versprechen zu erscheinen), bis zum Mittag nur eine Partei erschienen war, so gewann diese den Prozess (XII tab. 1, 8) – ein heute sog. Versäumnisurteil. Und bis zum Sonnenuntergang musste der Prozess beendet sein (XII tab. 1, 9).

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      Vermutlich von alters her galt eine Zweiteilung des Verfahrens. Im ersten Teil (in iure), d.h. vor dem Prätor als zuständigem Beamten (Rn. 80) sagten die Parteien die Prozessformeln (Rn. 56) auf. Zur eigentlichen Streitentscheidung, dem zweiten Teil (apud iudicem), verwies der Prätor das Verfahren an den Richter (iudex). Möglich war auch die Einsetzung eines Schlichters (arbiter) oder mehrerer Schiedrichter (recuperatores).

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      Die vor dem Prätor aufzusagenden Prozessformeln, die legis actiones (zur Etymologie Rn. 50), waren feierliche, bis aufs einzelne Wort vorgesehene Sprüche, teilweise auch mit dazu gehörenden, rituellen Handlungen. Dadurch wurde die Klage erhoben und auch die Reaktionsmöglichkeiten des Beklagten waren festgelegt. Die ältesten dieser Klagen sind die legis actio sacramento in rem (zur Sachverfolgung) und die legis actio sacramento in personam (persönliche Klage, vor allem für Geldforderungen). Jünger und moderner waren die legis actio per iudicis postulationem (durch Anforderung eines Richters) und die legis actio per condictionem (durch Ankündigung). Die erste diente u. a. Klagen aus Stipulationen (Rn. 72), die zweite war ein Vorläufer dessen, was wir heute ungerechtfertigte Bereicherung nennen (§§ 812 ff BGB) – aus dieser Zeit stammt der noch heute verwendete Ausdruck Kondiktion. Außerdem gab es eine legis actio per manus iniectionem zur Vollstreckung (Rn. 60).

      Über diese Legisaktionen wissen wir am meisten aus dem Anfängerlehrbuch des Gaius (Rn. 168), genauer aus Gai. Inst. 4, 11 ff. Dass der Prozess mündlich stattfand, hängt damit zusammen, dass zu dieser Zeit die wenigsten lesen und schreiben konnten. Dennoch war das Aufsagen der Formeln mit Gefahren verbunden, denn wer sich im Geringsten irrte, hatte den Prozess schon verloren (Formalismus).

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      Als Beispiel soll hier die legis actio sacramento in rem erläutert werden. Sie wurde benutzt für Klagen aus dem Eigentum. Die Überlieferung in Gaius Inst. 4, 16 lautet:

       Si in rem agebatur, mobilia quidem et moventia, quae modo in ius afferri adducive possent, in iure vindicabantur ad hunc modum: qui vindicabat, festucam tenebat; deinde ipsam rem apprehendebat, velut hominem,


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