Rechtsgeschichte. Susanne Hähnchen
nicht aus Kontrakt herzurühren, weil der, welcher mit der Absicht zu leisten gibt, eher ein Geschäft lösen als begründen will.
Über die Auslegung dieser Stelle gibt es bis heute viel Streit bzw. Zweifel an ihrer Echtheit. Wenn der Text echt ist, dann sah Gaius die ungerechtfertigte Bereicherung tatsächlich nicht als contractus an und die Dreiteilung in Dig. 44, 7, 1 erscheint jedenfalls sachlich richtig, die Zweiteilung in Gai. Inst. 3, 88 dementsprechend unvollständig.
In Gaius Inst. 3, 91 wird das Darlehen verglichen mit der Zahlung einer Nichtschuld (solutio indebiti), dem wichtigsten Grund einer ungerechtfertigten Bereicherung, die mit condictio zurückverlangt wurde (Rn. 127, vgl. Dig. 12, 6). Danach folgt die Darstellung eines Streites unter den klassischen Juristen („quidam putant“). Ob die condictio generell einen – wirksamen – rechtsgeschäftlichen Tatbestand (negotium) voraussetzte, ist bis heute umstritten und wird u. a. an dieser Stelle diskutiert, soll hier aber nicht vertieft werden. Möglicherweise ging es Gaius Inst. 3, 91 nämlich gar nicht darum, sondern – was viel besser in den Zusammenhang des Vorhergehenden passt – darum, ob die Zahlung einer Nichtschuld ein contractus ist bzw. wie sich diese in die Einteilung der Obligationen einfügt.
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Vorsicht ist geboten bei der Herleitung allgemeiner Regeln des Schuldrechts aus den Quellen (Rn. 171). Die klassischen Juristen haben kein „allgemeines Schuldrecht“ entwickelt, ebenso wenig einen „Allgemeinen Teil“ im Sinne desjenigen des BGB; dieser ist eine Erfindung der deutschen Pandektistik (Rn. 738). Insofern sind noch heute manche Lehrbücher des römischen Privatrechts recht pandektistisch (also letztlich ahistorisch).
Aussagen über die Folgen von sog. Leistungsstörungen werden immer (nur) für konkrete Kontraktstypen gemacht, vor allem für die Stipulation, etwa über die Unwirksamkeit der Obligation wegen anfänglicher objektiver Unmöglichkeit, beispielsweise das Versprechen der Leistung eines in Wahrheit verstorbenen Sklaven oder eines Freien;[23] wegen verschuldeter nachträglicher Unmöglichkeit und wegen Verzuges (mora). Eine Übertragung auf andere Vertragstypen (Analogie) ist nicht ohne weiteres möglich.
Als Verschuldensarten sind culpa (Fahrlässigkeit) und dolus (Vorsatz) bekannt. Daneben spielt bei manchen Vertragsarten die custodia (objektiv ordnungsgemäße Bewachung der verwahrten Sache) eine Rolle. So haftete der Verwahrer ohne weiteres für den von einem Einzelnen begangenen Diebstahl, nicht aber für die Entwendung durch eine Räuberbande oder für Schäden auf Grund von Naturkatastrophen.
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Gegenstand besonders gründlicher Behandlung durch die Klassiker war das Kaufrecht. In diesem Zusammenhang haben sie sich auch mit dem Problem befasst, inwieweit Dissens (fehlende Willensübereinstimmung) oder Irrtum das Zustandekommen des Vertrages verhindern. Hier eine etwas längere Leseprobe aus dem Sabinus-Kommentar des Spätklassikers Ulpian (Rn. 170):
Dig. 18, 1, 9 pr.:
Ulpianus libro vicensimo octavo ad Sabinum. In venditionibus et emptionibus consensum debere intercedere palam est: ceterum sive in ipsa emptione dissentient sive in pretio sive in quo alio, emptio imperfecta est. si igitur ego me fundum emere putarem Cornelianum, tu mihi te vendere Sempronianum putasti, quia in corpore dissensimus, emptio nulla est. idem est, si ego me Stichum, tu Pamphilum absentem vendere putasti: nam cum in corpore dissentiatur, apparet nullam esse emptionem.
§ 1. Plane si in nomine dissentiamus, verum de corpore constet, nulla dubitatio est, quin valeat emptio et venditio: nihil enim facit error nominis, cum de corpore constat.
§ 2. Inde quaeritur, si in ipso corpore non erratur, sed in substantia error sit, ut puta si acetum pro vino veneat, aes pro auro vel plumbum pro argento vel quid aliud argento simile, an emptio et venditio sit. Marcellus scripsit libro sexto digestorum emptionem esse et venditionem, quia in corpus consensum est, etsi in materia sit erratum. ego in vino quidem consentio, quia eadem prope est, si modo vinum acuit: ceterum si vinum non acuit, sed ab initio acetum fuit, ut embamma, aliud pro alio venisse videtur. in ceteris autem nullam esse venditionem puto, quotiens in materia erratur.
Übersetzung:
Ulpian im 28. Buch zu Sabinus. (pr.) Offensichtlich muss bei Käufen und Verkäufen Konsens bestehen. Im Übrigen, wenn man im Kauf selbst oder im Preis oder in etwas anderem nicht willenseinig ist, ist der Kauf unvollständig. So also, wenn ich glaube, das Cornelianische Grundstück zu kaufen, du das Sempronianische zu verkaufen glaubst, ist der Kauf nichtig, weil wir im Gegenstand nicht einig sind. Ebenso ist es, wenn ich den Stichus [zu kaufen], du den abwesenden Pamphilus zu verkaufen glaubst. Denn da wir über den Gegenstand uneins sind, erscheint der Kauf nichtig zu sein.
§ 1. Klar, wenn wir über den Namen uneins sind, aber über den Gegenstand das Wahre feststeht, besteht kein Zweifel, dass Kauf und Verkauf gültig sind. Nichts macht nämlich der Irrtum über den Namen, wenn der Gegenstand feststeht.
§ 2. Daher wurde gefragt, ob Kauf und Verkauf bestehen, wenn nicht im Gegenstand selbst geirrt wird, der Irrtum sich vielmehr auf die Substanz bezieht, zum Beispiel, wenn Essig für Wein verkauft wird, Erz für Gold oder Blei für Silber oder etwas anderes dem Silber Ähnliches. Marcellus schrieb im sechsten Buch der Digesten, Kauf und Verkauf seien [gültig], da Konsens über den Körper bestehe, wenn auch über den Stoff geirrt worden sei. Ich stimme für den Wein zu, weil es fast dasselbe „Wesen“ ist, wenn Wein sauer wird. Im Übrigen, wenn er nicht sauer wird, sondern von Anfang an Essig war, wie Gewürzessig, erscheint etwas anderes für etwas anderes verkauft. Sonst aber meine ich, dass der Verkauf nichtig ist, soweit über den Stoff geirrt wird.
Dig. 18, 1, 11 pr.:
Ulpianus libro vicesimo octavo ad Sabinum. Alioquin quid dicemus, si caecus emptor fuit vel si in materia erratur vel in minus perito discernendarum materiarum? in corpus eos consensisse dicemus? et quemadmodum consensit, qui non vidit?
§ 1. Quod si ego me virginem emere putarem, cum esset iam mulier, emptio valebit: in sexu enim non est erratum. ceterum si ego mulierem venderem, tu puerum emere existimasti, quia in sexu error est, nulla emptio, nulla venditio est.
Übersetzung:
Ulpian im 28. Buch zu Sabinus. (pr.) Denn was sollen wir sonst sagen, wenn der Käufer blind war oder im Stoff geirrt wurde oder bei zu geringer Sachkenntnis im Unterscheiden der Stoffe? Soll man [hier] im Gegenstand einig sein?
§ 1. Wenn ich glaube, eine Jungfrau zu kaufen, wenn sie schon Frau ist, wird der Kauf gültig sein. Über das Geschlecht besteht nämlich kein Irrtum. Im Übrigen, wenn ich eine Frau verkaufe und du meinst, einen Knaben zu kaufen, weil der Irrtum sich auf das Geschlecht bezieht, sind Kauf und Verkauf nichtig.
Auf den vorstehenden, langen Text geht nicht nur § 155 BGB zurück, sondern auch § 119 BGB. Auch die – von den Römern so nicht formulierte Regel – falsa demonstratio non nocet (Falschbezeichnung schadet nichts, d.h. wenn nur das Gleiche gemeint ist, wird der Wille der Parteien respektiert) geht auf Dig. 18, 1, 9, 1 zurück.
Eine Anfechtung kannten die Römer allerdings nicht. Es ging nur um Nichtigkeit oder Wirksamkeit des Vertrages. Die Abgrenzung vom relevanten zum unbeachtlichen Eigenschaftsirrtum fiel offensichtlich schon den Klassikern schwer. Unser § 119 Abs. 2 BGB ist nicht viel weiter gelangt. Denn die entscheidende Frage, was eine wesentliche Eigenschaft ist, lässt auch unser Gesetz offen.
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Beim sog. Gefahrübergang im Kaufrecht geht es darum, von welchem Zeitpunkt ab der Käufer den Preis bezahlen muss, obwohl die Kaufsache zerstört worden oder verloren