Polizeigesetz für Baden-Württemberg. Reiner Belz

Polizeigesetz  für Baden-Württemberg - Reiner Belz


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vorhanden sind (Subsidiarität der Generalermächtigung). Solche enthält das Polizeigesetz mit §§ 17 ff. (Polizeiverordnung), §§ 15 und 42 ff. (Datenverarbeitung), §§ 27 ff. (Standardmaßnahmen) und §§ 63 ff. (Polizeizwang). Darüber hinaus stellen die Normen des besonderen Polizeirechts eine Fülle von Ermächtigungsgrundlagen zur Verfügung. Sie verdrängen in ihrem Anwendungsbereich die polizeiliche Generalklausel, der somit nur noch eine Reservefunktion zukommt.

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      Ob das Spezialgesetz zur Gefahrenabwehr seinen Regelungsbereich abschließend abdeckt oder ob daneben Raum für die Anwendung von Vorschriften des Polizeigesetzes bleibt, ist durch Auslegung zu ermitteln.

      Beispiele: Zur Zulässigkeit einer Meldeauflage neben Maßnahmen nach dem Pass- und Personalausweisgesetz vgl. VGH BW, VBlBW 2000, 474, 475; zur Anwendung der allgemeinen polizeirechtlichen Vorschriften nach Stilllegung eines Bergwerks, vgl. VGH BW, NVwZ-RR 2000, 589, 590; § 16 a TierSchG verdrängt in seinem Anwendungsbereich die §§ 3, 1 und 38, 39 (BayVGH, BayVBl. 2006, 734); zur Anwendung des Polizeigesetzes neben dem Versammlungsgesetz, s. u. § 4 RN 22 ff.; zur Zulässigkeit von Maßnahmen aufgrund des Polizeigesetzes neben solchen des Asylgesetzes vgl. VGH BW, NVwZ-RR 1998, 680.

      Manchmal bestimmen Spezialgesetze sogar selbst, dass das Polizeigesetz ergänzend heranzuziehen ist, wie z. B. § 19 Abs. 4 LAbfG.

      Fehlt einer Maßnahme zur Gefahrenabwehr eine spezielle Ermächtigungsgrundlage, kann nicht automatisch die Generalklausel herangezogen werden. Nach der Wesentlichkeitslehre des BVerfG (vgl. u. a. BVerfGE 33, 1, 11 f.; 34, 165, 192; 61, 260, 275; 83, 130, 152; 108, 282, 309 ff.) gilt nämlich folgender Grundsatz: Je schwerwiegender der Eingriff in ein Grundrecht ist, umso genauer müssen die Vorgaben des förmlichen Gesetzes sein. Eine so allgemein gehaltene Rechtsgrundlage wie die Generalklausel genügt dieser Anforderung aber häufig nicht.

      Beispiele: Ein Eingriff in das Brief, Post- und Fernmeldegeheimnis aufgrund der §§ 3, 1 Abs. 1 PolG ist nicht zulässig. §§ 3, 1 Abs. 1 können auch nicht stets eine ausreichende Grundlage für einen Eingriff in die Berufsausübung sein (BVerwG, DÖV 2002, 479, 480). Zur Notwendigkeit einer speziellen Rechtsgrundlage für eine Meldeauflage: BVerwG, NVwZ 2007, 1439, 1441 – verneinend.

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      Ist eine spezielle Ermächtigungsgrundlage für eine polizeiliche Maßnahme vorhanden, bestimmen sich grundsätzlich alle übrigen rechtlichen Anforderungen für sie (z. B. Zuständigkeit, Verfahrensanforderungen, Form, Adressat) nach dem speziellen Gesetz.

      Beispiele: Die Zuständigkeit für eine Abbruchsanordnung nach § 65 Abs. 1 Satz 1 LBO richtet sich nach der LBO: §§ 46 ff. Der Adressat einer Anordnung nach § 16 a TierSchG bestimmt sich nach diesem Gesetz: § 2 TierSchG – Halter, Betreuer.

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      Selbst bei Vorhandensein eines speziellen Gesetzes zur Gefahrenabwehr ist ein Rückgriff auf die polizeiliche Generalermächtigung ausnahmsweise dann geboten, wenn das spezielle Gesetz zur Gefahrenabwehr lediglich Ge- oder Verbote ausspricht, nicht aber – ausdrücklich oder im Wege der Auslegung ermittelbar – zu Maßnahmen ermächtigt. Hier kann die Ge- oder Verbotsnorm allein nicht Ermächtigungsgrundlage sein, da der Vorbehalt des Gesetzes eine Handlungsermächtigung fordert. Ermächtigungsgrundlage sind dann §§ 3, 1 Abs. 1. Die Generalermächtigung konkretisiert das im Spezialgesetz enthaltene Ge- oder Verbot (konkretisierende Verfügung).

      Beispiele: Durch Satzung (§ 41 Abs. 2 StrG) wird den Straßenanliegern aufgegeben, die Gehwege zu reinigen. Enthält die Satzung selbst keine Norm, mit der auf die Befolgung des Gebots durch Verwaltungsakt hingewirkt werden kann, kommen als Ermächtigungsgrundlage nur §§ 3, 1 Abs. 1 in Betracht (OVG Schleswig, NVwZ-RR 1992, 338, 339; VGH BW, GewArch 1990, 403, 404; 1993, 205, 206).

      Die Untersagung des gewerblichen Betriebs einer Automatenvideothek an Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen stützt sich auf §§ 3, 1 Abs. 1 wegen Verstoßes gegen § 6 Abs. 1 FTG (vgl. VGH BW, NVwZ 2007, 1333).

      Untersagung eines bordellartigen Betriebs in einer Gemeinde mit weniger als 35000 Einwohnern wegen Verstoßes gegen § 1 der VO der Landesregierung über das Verbot der Prostitution.

      Anordnung der Herausgabe einer Urne, die entgegen § 33 BestattG auf einem Privatgrundstück beigesetzt wurde.

      Die Anordnung, eine nicht genehmigte Zweckentfremdung von Wohnraum zu beenden, ist auf §§ 3, 1 Abs. 1 zu stützen, da das Zweckentfremdungsverbotsgesetz in § 5 lediglich einen Ordnungswidrigkeitentatbestand enthält (VGH BW, Beschl. v. 6.8.2020 – 3 S 1493/20).

      Im Hinblick auf die übrigen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen gilt wieder der Grundsatz, dass das spezielle dem allgemeinen Gesetz vorgeht. Der Grundsatz, dass die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen dem Gesetz der Ermächtigungsgrundlage zu entnehmen sind, erfährt hier also eine Ausnahme (str.).

      Beispiele: § 33 StVO verbietet den Betrieb von Lautsprechern auf der Straße. Mangels Verfügungsermächtigung in der StVO findet eine Verbotsanordnung ihre Grundlage in §§ 3, 1 Abs. 1. Zuständig hierfür ist die Straßenverkehrsbehörde nach § 44 Abs. 1 StVO und nicht die Ortspolizeibehörde nach §§ 104, 105, 111 Abs. 2. Ein anderes Ergebnis wäre auch praxisfremd. Vgl. aber auch VGH BW, VBlBW 2007, 104, wo in einem vergleichbaren Fall die Ortspolizeibehörde als zuständig angesehen wurde.

      Die Straßenverkehrsbehörden können auch gegen sog. Auto-Poser eine auf §§ 3, 1 Abs. 1 i. V. m. § 30 Abs. 1 StVO gestützte Untersagungs- bzw. Unterlassungsverfügung erlassen, die eine Grundlage für die Verwaltungsvollstreckung schafft (VG Karlsruhe, Urt. v. 17.12.2018 – 1 K 4344/17).

       a) Allgemeines

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      Polizeiliche Maßnahmen sind alle, i. d. R. nach außen in Erscheinung tretenden, aufgrund Polizeirechts getroffenen Tätigkeitsakte. Dazu zählen nicht nur die im zweiten Abschnitt des ersten Teils des Polizeigesetzes ausdrücklich genannten Maßnahmen. Insgesamt können folgende Maßnahmen unterschieden werden: Polizeiverfügung, unmittelbare Ausführung einer Maßnahme, Polizeiverordnung, Maßnahmen zur Datenverarbeitung, Polizeizwang, Erlaubnis, Realakt und verwaltungsrechtlicher Vertrag. Eine rechtliche Einordnung ist mit dieser Aufzählung nicht unbedingt verbunden; so können z. B. Maßnahmen zur Datenverarbeitung teils Verwaltungsaktqualität aufweisen, teils sind sie Realakte.

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      Nach § 3 darf die Polizei ihre Maßnahmen nur innerhalb der durch das Recht gesetzten Schranken treffen. Mit dieser Aussage wird an die Geltung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) für polizeiliches Handeln erinnert. Dieser Grundsatz enthält als erstes Element den Vorrang der Verfassung, d. h., polizeiliche Maßnahmen müssen stets verfassungskonform sein (Einzelheiten s. u. § 4). Der Vorrang des Gesetzes, das zweite Element, bedeutet, dass polizeiliche Maßnahmen nicht gegen (höherrangige) Rechtssätze verstoßen dürfen. Welche formellen und materiellen Anforderungen diese stellen, hängt auch von der Art der polizeilichen Maßnahme ab (Einzelheiten s. u. RN 10 ff.). Das dritte Element, der Vorbehalt des Gesetzes, besagt, dass niemand zu einer Handlung, Unterlassung oder Duldung gezwungen


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