Polizeigesetz für Baden-Württemberg. Reiner Belz
(§ 54 Satz 1 LVwVfG).
a) Entschließungs- und Auswahlermessen
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Nach § 3 hat die Polizei diejenigen Maßnahmen zu treffen, die ihr nach pflichtgemäßem Ermessen erforderlich erscheinen. Im Anwendungsbereich der Generalklausel gilt also das Opportunitätsprinzip. Ob und in welchem Umfang dieses Prinzip auch für andere Ermächtigungsgrundlagen gilt, ist aus Wortlaut und Sinn der jeweils anzuwendenden Vorschrift zu ermitteln. Ermessen wird z. B. eingeräumt bei den Standardmaßnahmen und bei den Ermächtigungen zur Datenverarbeitung und zur Zwangsanwendung. Auch im besonderen Polizeirecht gilt überwiegend das Opportunitätsprinzip.
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Ermessen bedeutet, dass die Polizei bei Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale nicht an eine vorgegebene Rechtsfolge gebunden ist, sondern diese selbst aufgrund von Zweckmäßigkeitserwägungen bestimmen kann. Sie kann entscheiden, ob sie überhaupt einschreiten will – Entschließungsermessen – und, falls diese Entscheidung positiv ausfällt, kann sie entscheiden, welche von mehreren rechtlich zulässigen Maßnahmen sie ergreifen will und/oder gegen welchen von mehreren möglichen Störern vorgegangen wird – Auswahlermessen. § 3 umfasst, trotz des nicht ganz eindeutigen Wortlauts, nach einhelliger Auffassung beide Arten des Ermessens. Die Einräumung eines polizeilichen Ermessensspielraumes hat den Sinn, den Zweck des Gesetzes, dem jeweiligen Einzelfall angepasst, möglichst optimal zu realisieren.
Beispiel: Obwohl die rechtlichen Voraussetzungen für ein Abschleppen von Fahrzeugen, die vorschriftswidrig vor einem Jugendzentrum abgestellt sind, vorliegen, ergreift die Polizei dieses Mittel nicht. Vielmehr werden die Fahrer durch Öffentlichkeitsarbeit, Hinweiszettel an den Fahrzeugen und durch Mitarbeit der Veranstalter auf die für die Umgebung entstehenden Probleme aufmerksam gemacht. Diese Maßnahme kann zu einer Sensibilisierung und damit langfristig zu einem größeren Erfolg führen.
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Die Bedeutung des Ermessens für die Polizeipraxis relativiert sich in vielen Fällen. Manchmal ist das Entschließungsermessen so weit reduziert, dass eine Pflicht zum Tätigwerden besteht (s. u. RN 33). Beim Auswahlermessen ist zu beachten, dass dieses nur eine Wahlmöglichkeit unter verschiedenen rechtmäßigen Rechtsfolgen verleiht. Häufig besteht aber keine Wahlmöglichkeit, weil bei Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit i. w. S. nur noch eine Rechtsfolge verbleibt, die geeignet, das mildeste Mittel und angemessen ist.
Beispiel: Kommen als tatbestandsmäßig zulässige und geeignete Mittel zur Beseitigung von Gefahren, die von jugendlichen Fußballrowdys ausgehen, die Beschlagnahme von gefährlichen Gegenständen und die Zurückschickung in Betracht, scheidet Letztere im Hinblick auf § 5 Abs. 1 aus und somit besteht keine Wahlmöglichkeit.
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Im Gegensatz zum Opportunitätsprinzip steht das Legalitätsprinzip. Dieses gilt bei der Verfolgung von Straftaten und verpflichtet die Polizei, Straftaten zu erforschen und entsprechende Anordnungen zu treffen. Dagegen findet das Opportunitätsprinzip bei der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten Anwendung (§§ 47, 53 OWiG).
b) Bindungen des Ermessens, Ermessensfehler
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Ermessen ist immer ein pflichtgemäßes, d. h. rechtlich gebundenes Ermessen. Das kommt auch in § 40 LVwVfG zum Ausdruck: Das Ermessen ist entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und es sind die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Polizeiliches Handeln, das hiergegen verstößt, ist ermessensfehlerhaft und damit grundsätzlich rechtswidrig. Insoweit unterliegen Ermessensakte auch der gerichtlichen Kontrolle (vgl. § 114 VwGO). Anders liegt der Fall bei der Beurteilung der Zweckmäßigkeit polizeilicher Maßnahmen. Deren Überprüfung kann nur in einem Verwaltungsverfahren (vgl. z. B. § 68 VwGO) verlangt werden. Außerdem hat die Unzweckmäßigkeit einer Maßnahme keine Folgen für deren Rechtmäßigkeit.
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Ein Ermessensfehler ist die Ermessensüberschreitung, die dann gegeben ist, wenn die angeordnete Rechtsfolge über die von der Ermessensnorm gesetzten Grenzen hinausgeht.
Beispiel: Im Rahmen einer Durchsuchung nach § 34 wird der Betroffene auch nach Körpermerkmalen untersucht. Das sprengt den Rahmen des § 34, da diese Vorschrift körperliche Untersuchungen nicht erfasst.
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Von Ermessensausfall (Ermessensnichtgebrauch) spricht man, wenn ein vorhandenes Ermessen nicht ausgeübt wird, sei es aus Nachlässigkeit oder weil die Polizei meint, sie besitze kein Ermessen.
Beispiel: Polizeibeamter P lehnt ein Einschreiten gegen den Fahrer eines vor einer Garagenausfahrt widerrechtlich geparkten Kfz ab, weil er irrtümlich der Auffassung ist, er dürfe hier (wegen § 2 Abs. 2) nicht einschreiten, was im Hinblick auf § 12 LOWiG jedoch unzutreffend ist. Vgl. auch die – wenig überzeugende – Entscheidung des VGH BW, VBlBW 2002, 73.
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Ermessensmissbrauch (Ermessensfehlgebrauch) liegt vor, wenn das Ermessen nicht entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausgeübt wird, so etwa, wenn von unzutreffenden Tatsachen ausgegangen wird (von mehreren Störern A und B wird A herangezogen, weil irrtümlich angenommen wird, B sei nicht erreichbar), wenn die Polizei sich von schlechthin unzulässigen Erwägungen leiten lässt (rein persönliche oder böse Absicht, Willkür) oder wenn sie sich von Motiven bestimmen lässt, die mit dem Zweck des Gesetzes nicht in Einklang stehen.
Beispiele: Bei der Entscheidung, ob eine Ausnahmebewilligung nach § 12 FTG erteilt werden kann, stellt die Behörde wettbewerbliche Argumente (z. B. Schutz eines Konkurrenten) in den Vordergrund. Das ist mit dem Zweck dieses Gesetzes (Feiertagsschutz) nicht vereinbar. Polizeiliche Kontrollen vor Beginn einer Versammlung, mit denen die Teilnahme an der Versammlung verhindert werden soll, sind mit dem Versammlungsgesetz und Art. 8 Abs. 1 GG nicht vereinbar.
Welche Erwägungen im Einzelfall ermessensfehlerfrei sind, ist nicht immer ganz einfach zu ermitteln. Grundsätzlich werden im Polizeirecht polizeiliche, d. h. der Gefahrenabwehr dienende, Motive nicht zu beanstanden sein. Andere Motive sind daneben aber nicht grundsätzlich ausgeschlossen. So hat die Rechtsprechung (VGH BW, VBlBW 1990, 257, 259; BWVPr. 1995, 233) beim Abschleppen von Kfz u. a. – jedoch nicht allein – generalpräventive Gesichtspunkte als zulässige Ermessenserwägungen angesehen. In gleicher Weise können Maßnahmen zulässig sein, um (z. B. eine Drogenszene) zu verunsichern oder um (z. B. gewaltbereite Hooligans) zu beeindrucken. Selbst fiskalische Erwägungen können im Einzelfall die Ermessensentscheidung der Polizei zulässigerweise (mit-)bestimmen.
Ermessensfehlerhaft sind aber z. B. Maßnahmen, mit denen jemand gezielt angeprangert oder bloßgestellt werden soll.
Beispiele: Für eine Gefährderansprache (s. o. RN 19) wird bewusst der Arbeitsplatz ausgewählt, um den Betroffenen vor den Kollegen