Polizeigesetz für Baden-Württemberg. Reiner Belz
Vereinigungsfreiheit, Koalitionsfreiheit (Art. 9 GG)
e) Berufsfreiheit (Art. 12 GG)
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Die Vorschrift ist nicht selbst Ermächtigungsgrundlage für grundrechtsrelevante Eingriffe, sondern nennt einzelne Grundrechte, die durch polizeiliche Maßnahmen z. B. aufgrund §§ 3, 1; 27 ff. eingeschränkt werden dürfen. Damit trägt § 4 dem Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG Rechnung. Aus dem Umstand, dass zahlreiche Grundrechte in § 4 nicht genannt sind, kann jedoch nicht geschlossen werden, diese seien nicht einschränkbar oder werden durch das PolG nicht eingeschränkt (s. u. RN 14 ff.). Das Zitierverbot erfasst nämlich nur jene Grundrechte, bei denen eine Einschränkung durch oder aufgrund eines Gesetzes möglich ist (Einschränkungsvorbehalt; BVerfGE 113, 348, 366).
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Weitere verfassungsrechtliche Anforderungen an polizeiliche Maßnahmen enthält das Polizeigesetz in § 5.
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Die Grundrechte haben nicht nur die eine Funktion als Abwehrrechte zur Eingrenzung polizeilicher Befugnisse. Sie sind auch selbst Schutzgut, da der Staat ihre ungehinderte Ausübung zu gewährleisten hat (s. o. § 1, RN 22).
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Neben den Grundrechten ist auch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) Maßstab für die Gesetzgebung der Länder auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr und für polizeiliches Handeln. Sie hat den Rang einfachen Bundesrechts und garantiert – allerdings nicht vorbehaltlos – u. a. das Recht auf Leben (Art. 2), das Verbot der Folter (Art. 3), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5) und das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie der Wohnung (Art. 8). Eine Verletzung dieser Rechte kann – neben dem nationalen Rechtsweg – beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gerügt werden (Art. 35 EMRK).
2. Genannte, durch das Polizeigesetz einschränkbare Grundrechte
a) Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG)
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In das Recht auf körperliche Unversehrtheit wird durch die Anwendung unmittelbaren Zwangs (§§ 64 ff.), vor allem durch Waffengebrauch eingegriffen. Ein gezielter Todesschuss (§ 68 Abs. 2) berührt das Recht auf Leben.
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Die Polizei kann andererseits verpflichtet sein, zum Schutz des Lebens tätig zu werden, etwa zur Verhinderung der Begehung einer Selbsttötung (§ 33 Abs. 1 Nr. 2 c), zur Rettung eines Verunglückten oder um eine aktive Sterbehilfe zu untersagen (VG Karlsruhe, NJW 1988, 1536, 1537; VGH BW, NVwZ 1990, 378).
b) Recht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG)
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Freiheit der Person bedeutet körperliche Bewegungsfreiheit. Sie kann durch Freiheitsbeschränkungen oder Freiheitsentziehungen eingeschränkt werden, wobei für Letztere die besonderen Verfahrensvorschriften des Art. 104 Abs. 2 GG (Richtervorbehalt) zu beachten sind. Im Übrigen ist die Abgrenzung nicht immer problemlos.
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Eine Freiheitsentziehung liegt vor, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt an einem bestimmten eng umgrenzten Ort festgehalten wird. Dazu gehören z. B. das Festhalten einer Person und ihre Mitnahme zur Dienststelle (Sistierung) anlässlich einer Personenfeststellung (§ 27), der polizeiliche Gewahrsam (§ 33), zu dem auch die Einkesselung (Einschließung) und der sog. Wanderkessel (einschließende Begleitung) gehören, und ferner die Vorführung einer Person nach § 28 Abs. 3.
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Freiheitsbeschränkungen sind alle übrigen Einschränkungen der körperlichen Bewegungsfreiheit, wie z. B. das Anhalten einer Person anlässlich einer Befragung (§ 43 Abs. 1 Satz 10), anlässlich einer Maßnahme nach § 51 Abs. 4 oder einer Personenfeststellung (§ 27 Abs. 2), sofern dieses über den flüchtigen Augenblick hinausgeht, oder die vollständige Abriegelung eines Ortes für mehrere Stunden durch Polizeibeamte (OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2007, 103).
c) Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG)
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Die Anwendung von Ermächtigungsgrundlagen aus dem PolG für Maßnahmen, die sich an Versammlungen richten, wird vom verfassungsrechtlichen Grundsatz der Polizeifestigkeit von Versammlungen begrenzt. Das Recht, öffentliche Versammlungen (zur Versammlungseigenschaft vgl. BVerwG, DÖV 2007, 883; NVwZ 2007, 1431, 1434; VGH BW, VBlBW 2008, 60) und Aufzüge zu veranstalten und an solchen teilzunehmen, wird durch das Versammlungsgesetz konkretisiert. Dieses regelt abschließend, unter welchen Voraussetzungen derartige Veranstaltungen durchgeführt, beschränkt oder verboten werden dürfen.
Beispiele: Eine öffentliche Versammlung kann nur durch eine Auflösung nach § 15 Abs. 2 VersG, nicht aber auf der Grundlage der polizeilichen Generalklausel oder über polizeiliche Standardmaßnahmen, insbesondere durch eine Ingewahrsamnahme in Form der Einkesselung, beendet werden (BVerwG, NVwZ 1988, 250; VGH BW, NVwZ 1998, 761; OVG NW, DVBl. 2001, 839, 840).
Ein Platzverweis, § 27 a, ist unzulässig, solange sich die Person in einer Versammlung befindet (BVerfG, NVwZ 2005, 80, 81; VGH BW, VBlBW 2008, 60 – stille Mahnwache).
Damit wird die Anwendbarkeit anderer Gesetze zur Gefahrenabwehr, z. B. Straßenrecht, Baurecht, Seuchenrecht, nicht ausgeschlossen, sofern damit nur mittelbare Auswirkungen auf die Versammlungsfreiheit verbunden sind (VGH BW, NVwZ 1998, 761, 763).
Als zulässig werden ferner sog. Vorfeldmaßnahmen aufgrund des Polizeigesetzes angesehen, z. B. die Personenfeststellung oder die Durchsuchung von Personen und Sachen bei anreisenden Versammlungsteilnehmern, sofern hierdurch die Versammlung weder zeitlich beschränkt noch unmöglich gemacht wird. Eine Gefährderansprache nach dem neuen § 29, mit der die Polizei einer Person signalisiert, dass sie unter Beobachtung steht und welche polizeilichen Maßnahmen im Fall einer Störung gegen sie ergriffen werden, zielt darauf ab, den Betroffenen von einer Störung abzuhalten. Aufgrund dieser Abschreckungswirkung, die Einfluss auf die Entschließungsfreiheit der betroffenen Person nehmen soll, kann es im Einzelfall auch zu Eingriffen in Art. 8 Abs. 1 GG kommen, weswegen die Versammlungsfreiheit nunmehr in die Liste der einschränkbaren Grundrechte aufgenommen wurde.
Polizeirechtliche Befugnisse stehen als Mittel zur Abwehr unmittelbarer Gefahren i. S. des § 15 VersG zur Verfügung (BVerwG, NJW 1982, 1008; OVG Bremen, NVwZ 1990, 1188, 1189) und auch dann, wenn sie das mildere Mittel gegenüber den versammlungsrechtlich zulässigen Maßnahmen („Minusmaßnahmen“)