Polizeigesetz für Baden-Württemberg. Reiner Belz

Polizeigesetz  für Baden-Württemberg - Reiner Belz


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die Ehefrau erhalte hiervon Kenntnis.

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      Als Ermessensfehler i. w. S. können auch Verstöße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i. w. S. (s. u. § 5, RN 1 ff.) und gegen Grundrechte, vor allem gegen Art. 3 Abs. 1 GG angesehen werden. Der Gleichheitssatz verbietet es z. B., dass die Polizei von ihrer ständigen Praxis ohne sachlichen Grund abweicht (Selbstbindung der Verwaltung). Eine Polizeiverordnung über das Halten gefährlicher Hunde darf nicht willkürlich einzelne Hunde als sog. Kampfhunde aufnehmen, andere, bei denen sich diese Eigenschaft aber geradezu aufdrängt, unbeachtet lassen (VGH BW, NVwZ 1992, 1105, 1107; BVerfGE 110, 141). Eine Verletzung des Gleichheitssatzes liegt jedoch nicht ohne Weiteres dann vor, wenn die Polizei in vergleichbaren Fällen nicht eingeschritten ist.

       Beispiel: Die Polizei handelt nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie nicht „flächendeckend“ alle verbotswidrig abgestellten Kfz abschleppt. Es ist zulässig, anlass-, zeit- oder ortsbezogen, z. B. wegen begrenzter personeller Kapazitäten der Polizei vorzugehen (vgl. BVerwG, NVwZ-RR 1992, 360; VGH BW, NJW 1989, 603; NVwZ-RR 1997, 465, 466). Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG wäre jedoch das Abschleppen einzelner Fahrzeuge, ohne dass ein sachlicher Grund für die Schonung der anderen erkennbar wäre.

      Ermessensreduzierung „auf null“ (beim Entschließungsermessen) bedeutet: Das gesetzlich eingeräumte Ermessen schrumpft so weit, dass nur noch eine Entscheidung, und zwar die zum Einschreiten oder die zum Nichteinschreiten, rechtmäßig ist. Der erste Fall wird aufgrund der bestehenden Schutzpflicht des Staates immer dann gegeben sein, wenn höchste Rechtsgüter (Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit) bedroht sind. Auch wenn Rechtsgütern der EU Gefahren drohen, kann eine Ermessungsreduzierung auf null beim Entschließungsermessen vorliegen.

      Beispiel: Aus Protest blockieren Bauern tagelang alle Grenzübergänge nach Frankreich. Hier muss die Polizei Maßnahmen treffen, um den freien Personen- und Güterverkehr zu gewährleisten (vgl. EuGH, EuZW 1998, 84).

      Ansonsten sind die Umstände des Einzelfalles maßgebend. Dort kann die Höhe des zu erwartenden Schadens eine Pflicht zum Einschreiten begründen, ohne dass dieses allerdings zwingend wäre. Bagatellgefahren können grundsätzlich keine Ermessensreduzierung auslösen, es sei denn, das polizeiliche Einschreiten erfordert keinen hohen Aufwand und führt auch nicht zu einer Vernachlässigung anderer wichtigerer Aufgaben.

      Beispiele: Die Ortspolizeibehörde ist verpflichtet, einem Obdachlosen eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen, in der er sich ganztägig aufhalten kann (VGH BW, VBlBW 1993, 304, 305). Es genügt eine „Notunterkunft“, nicht eine „Normalwohnung“ (VGH BW, VBlBW 1997, 187, 188). Die Polizei ist – zumindest vorübergehend – nicht verpflichtet, gegen Hausbesetzer einzuschreiten, wenn hierdurch schwerwiegende Ausschreitungen als Reaktion zu erwarten sind (VG Berlin, NJW 1981, 1748, 1749).

      Ermessensreduzierung „auf null“ beim Auswahlermessen bedeutet: nur eine von mehreren möglichen Maßnahmen und/oder die Heranziehung nur eines von mehreren Adressaten ist rechtmäßig.

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      Die Rechtsprechung hat zudem die umstrittene Rechtsfigur des sog. „intendierten Ermessens“ entwickelt. Diese Ermessensvorschriften bringen ausdrücklich oder zumindest nach Sinn und Zweck hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass im Regelfall eine bestimmte Rechtsfolgeentscheidung zu treffen ist (BVerwGE 105, 55).

      Beispiel: Auslegung von § 15 Abs. 2 Satz 1 GewO in dem Sinne, dass die Gewerbebetriebsschließung die vom Gesetzgeber vorgezeichnete Regelentscheidung ist, ein Absehen hiervon der zu begründende Ausnahmefall (VGH Kassel, GewArch 1996, 291).

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      Der Verpflichtung oder Berechtigung zum polizeilichen Handeln steht nicht automatisch das Recht des Bürgers auf eine konkrete Maßnahme oder auf fehlerfreie Ermessensausübung gegenüber. Das ist nur der Fall, wenn die anzuwendende Norm die Interessen des Einzelnen schützt und dieser Schutz bezweckt ist, mithin ein subjektiv-öffentliches Recht vorliegt. Die Generalklausel und die speziellen Ermächtigungsgrundlagen des Polizeigesetzes – nicht aber § 2 Abs. 2 – können ein solches sein. Das ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut des § 1 (von dem Einzelnen … Gefahren abzuwehren), sondern auch aus den individualbezogenen Schutzgütern (z. B. Leben, Gesundheit, Freiheit), die vom Begriff „öffentliche Sicherheit“ umfasst sind.

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      Kann sich der Bürger auf ein subjektiv-öffentliches Recht berufen, so steht ihm bei gebundener Verwaltung ein Anspruch auf das Handeln und/oder die vom Gesetz festgelegte Maßnahme zu. Bei Ermessensnormen besteht grundsätzlich nur ein Anspruch auf fehlerfreie Ausübung des Ermessens. Hat sich aber das Ermessen „auf null“ reduziert (s. o. RN 30), erwächst ein Anspruch wie bei der gebundenen Verwaltung.

      Beispiel: Im ersten Beispielsfall bei RN 33 hat der Obdachlose nicht nur einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung, sondern einen Anspruch auf die Zuweisung einer ganztägigen Unterkunft.

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      Die Befugnis der Polizei zum Einschreiten kann im Einzelfall verwirkt sein, nämlich dann, wenn seit der Möglichkeit des Einschreitens längere Zeit verstrichen ist und besondere Umstände hinzutreten, die das spätere Tätigwerden der Polizei als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Bloßes längeres Untätigbleiben der Polizei schafft jedoch keine Vertrauensgrundlage, die eine Verwirkung rechtfertigen könnte (VGH BW, NVwZ-RR 1996, 387, 389 f.; VBlBW 2008, 339, str., vgl. auch VGH BW NVwZ-RR 2000, 589, 591).

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      Ob hinsichtlich der Befugnis zum polizeilichen Einschreiten gegen einen bestimmten Störer eine Verjährungsfrist in analoger Anwendung der §§ 194 ff. BGB gilt, ist umstritten, wird aber von der wohl h. M. verneint (vgl. VGH BW, NVwZ-RR 1996, 387, 390; 2000, 589, 591; VBlBW 2008, 339). Diese „Ewigkeitshaftung“ ist berechtigt und hat ihren Grund darin, dass die Befugnis und evtl. die Pflicht der Polizei zu gefahrenabwehrendem Handeln nicht mit einem zivilrechtlichen Anspruch gleichgesetzt werden kann.

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      Dagegen bestehen hinsichtlich einer Verjährung von Polizeikostenersatzansprüchen (z. B. nach durchgeführter unmittelbarer Ausführung einer Maßnahme nach § 8 Abs. 1) grundsätzlich keine Bedenken, denn bei diesen handelt es sich „lediglich“ um vermögensrechtliche Ansprüche. Überwiegend wird deshalb hier die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren (analog § 195 BGB) anerkannt. Wurde ein Verwaltungsakt in der Form eines Kostenbescheids erlassen und ist dieser unanfechtbar, beträgt die Verjährungsfrist 30 Jahre, § 53 Abs. 2 Satz 1 LVwVfG. Vgl. auch § 100, RN 7 und


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