Pitaval des Kaiserreichs, 5. Band. Hugo Friedländer
das Urteil eingelegte Revision wurde vom Reichsgericht verworfen.
Der Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. v. Pannwitz, betrieb unablässig und schließlich auch mit Erfolg das Wiederaufnahmeverfahren. Elise v. Heusler war außerdem vom Zivilgericht verurteilt worden, an Minna Wagner 3000 Mark Entschädigung zu zahlen. Das Urteil ist aber nicht rechtskräftig geworden. Inzwischen war Minna Wagner gestorben. Auf Antrag des R.-A. Dr. v. Pannwitz wurde die Leiche der Wagner seziert. Die Sektion ergab, daß in der Leiche eine Salzsäurevergiftung nicht gefunden wurde. Die Brechanfälle, so erklärten die Ärzte, müsse die Wagner simuliert haben; von Salzsäure sei im Körper keine Spur vorhanden gewesen.
Auf Beschluß des Bayerischen Oberlandesgerichts wurde das Wiederaufnahmeverfahren beschlossen und Elise v. Heusler im November 1905 aus dem Zuchthause entlassen. Sie hatte also 7 Monate in Untersuchungshaft und 2 1/2 Jahre im Zuchthause zugebracht. Am 25. Oktober 1906 hatte sich Elise v. Heusler im Wiederaufnahmeverfahren nochmals vor dem Schwurgericht des Landgerichts München I zu verantworten.
Die Angeklagte war inzwischen 58 Jahre alt geworden. Sie sah stark gealtert aus. Die Spuren des zweieinhalbjährigen Aufenthalts im Zuchthause waren auf ihrem Gesicht unverkennbar. Sie war schlicht gekleidet und brach auf der Anklagebank wiederholt in Tränen aus, während sie in der ersten Verhandlung eine große Ruhe zeigte. Die Angeklagte versicherte auf Befragen des Vorsitzenden unter heftigem Weinen, daß sie unschuldig sei. Sodann äußerte sich die Angeklagte über die Minna Wagner. Die Wagner habe getrunken, obwohl sie nach ihrer eigenen Angabe einen schlechten Magen gehabt habe. Wiederholt seien viele Flaschen Bier leer gewesen, und da sie die Wagner im Verdacht hatte, die Flaschen ausgetrunken zu haben, machte sie ihr Vorhaltungen. Daß die Wagner daraufhin gedroht habe, sich im Ministerium über die Angeklagte zu beschweren, sei unwahr. Sie könne sich nicht mehr an lieblose Äußerungen erinnern, die sie über die Wagner sowie über Stiftsdamen getan haben solle. Des weiteren äußerte die Angeklagte den Verdacht, daß die Wagner im Komplott mit der Stiftsdame Lotz gehandelt habe, mit der sie (Angeklagte) verfeindet war, weil sie der Lotz verboten hatte, unanständige Gespräche bei Tisch zu führen.
Köchin Marie Holzapfel bekundete als Zeugin: Sie war bei dem Ingenieur Lippmann bedienstet, als die Minna Wagner von diesem aus Mitleid als Dienstmädchen aufgenommen wurde. Die Wagner zeigte sich bald sehr naschhaft und verlogen. Eines Tages hatte sie einen Streit mit ihr. Nachts darauf wurde sie (Zeugin) von ihrem Dienstherrn geweckt, sie solle die Gashähne schließen, die von der Wagner geöffnet worden seien. Ein anderes Mal soll die Wagner eine Suppenschüssel mit Petroleum beschmiert haben.
Die Feststellung des Verteidigers, daß drei Wochen vor dem kritischen Tage im Stift auf Rechnung von drei Stiftsfräuleins 241 Flaschen Bier getrunken worden seien, erregte allgemeine Heiterkeit.
Alsdann wurde die 64 Jahre alte, sehr gebrechliche Stiftsdame Neudegger vernommen, die an das bayerische Ministerium eine Eingabe zugunsten der Angeklagten gerichtet hatte. Es hieß in der Eingabe: Es sei unerhört, daß man annehmen könne, die Oberin v. Heusler hätte die Tat begangen.
Die Angeklagte erklärte zu der Eingabe, sie selbst habe die Zeugin gebeten, dem Ministerium alles mitzuteilen, weil sie selbst doch nicht in eigener Sache schreiben konnte. Was die Zeugin zu schreiben hatte, habe sie ihr nicht gesagt.
Eine weitere Zeugin bekundete: Eine Stiftsdame habe mit Vorliebe ihren eigenen Kot in die Hand genommen, im Zimmer herumgetragen und anderen Damen unter die Nase gehalten. Ferner soll eine Dame bei Tisch zu einer anderen gesagt haben: »Sie haben aber heute ein mächtiges Vorgebirge!« Eine andere Zeugin erklärte: Ein Stiftsfräulein sei als große Freundin von Likören und Schnaps bekannt gewesen; auch sei davon gesprochen worden, daß die Stiftsdamen gern Bier tranken. Es seien auch wiederholt Reibereien zwischen der Angeklagten und den anderen Damen vorgekommen. Eine von den Stiftsdamen habe ein Tagebuch über ihre Streitigkeiten mit der v. Heusler geführt.
Der Referent im Ministerium des Innern, Regierungsrat Dr. Castor, bekundete: Die Angeklagte sei nicht liebevoll im Sinne christlicher Nachsicht und Geduld, wie es den Grundsätzen des Maximilianstiftes entspreche, mit den meist hochbetagten Damen verfahren, sondern roh, unfreundlich, heftig und hart zu ihnen gewesen. Das Verhalten der Angeklagten habe Anlaß gegeben, sie mehrfach zu verwarnen.
Fräulein Lotz, die, da sie krankheitshalber nicht erscheinen konnte, kommissarisch vernommen war, hatte bestätigt, daß sie der v. Heusler sofort am selben Abend von der Erkrankung der Wagner Mitteilung gemacht und dabei den Verdacht geäußert hatte, jemand müsse der Wagner etwas in den Kaffee getan haben. Die Anklage hatte es nämlich als auffallend bezeichnet, daß die Angeklagte zuerst und von selbst von Kaffee und Salzsäure gesprochen habe, ohne daß zu ihr jemand vorher von dem Kaffee der Wagner gesprochen hätte.
Der Arzt, der die Wagner zuerst behandelt hatte, bekundete: Er habe nur festgestellt, daß eine Vergiftung vorliege; er habe aber nicht konstatiert, daß es sich um eine Salzsäurevergiftung handle.
Der Krankenhausarzt bekundete: Er habe nicht den Eindruck einer schweren akuten Vergiftung gehabt; er nahm an, daß es sich zum großen Teil um nervöse Erscheinungen handelte.
Apotheker Dr. Rapp: Er habe den von der Wagner ins Krankenhaus mitgebrachten Kaffeerest untersucht; dieser habe zwanzigmal soviel Salzsäure enthalten, wie man vertragen könne.
Eine Zeugin erklärte: Die Wagner sei eines Meineids fähig gewesen. Einige Zeugen schilderten die Angeklagte als fleißig und zuverlässig, andere als klatschsüchtig, zänkisch und verlogen.
Medizinalrat Dr. Stampf, ehemaliger Hausarzt des Stifts, bekundete: Er hatte den Eindruck, daß die Angeklagte eine sinnliche Person mit perverser Veranlagung sei, Einzelheiten, auf die sich diese Annahme stützte, vermag er nicht anzugeben.
Hofrat Dr. med. Schröder hatte die Angeklagte in einem Berichte als leidenschaftlich, herrschsüchtig, lügenhaft und unzuverlässig bezeichnet. Er halte dieses Urteil, obwohl er es im einzelnen nicht mehr zu begründen vermag, aufrecht.
Es folgte sodann die Vernehmung der medizinischen Sachverständigen. Universitätsprofessor Dr. Schmidt-München: Er habe Minna Wagner operiert, und zwar 1903 kurz nach der ersten Gerichtsverhandlung. Es wurde eine deutliche Verengerung des Magenausgangs festgestellt; aber es fiel gleich auf, daß keine Spur von einer Verätzung vorhanden war. Auffallend war ferner, daß die Wagner erbrach, ohne über Magenbeschwerden zu klagen. Bei einer späteren Bauchöffnung wurde eine Verschiebung im Dickdarm gefunden. Nach Beseitigung dieses Übelstandes erholte sich die Wagner sehr schnell. Verletzungen an der hinteren Magenwand waren nicht vorhanden; das spreche dafür, daß der angeblich vergiftete Kaffee nicht geschluckt worden sei. Wenn die Wagner die Salzsäure heruntergeschluckt hätte, würde sie unmöglich bis zum nächsten Morgen auf den Arzt gewartet haben, weil die Salzsäure unsägliche Schmerzen verursache.
Als Todesursache der Wagner gab Prof. Dr. Meyer-München eine große Eiterung der Bauchhöhle an, die bis zu den unteren Extremitäten gegangen sei. Erscheinungen von Vergiftungen wurden nicht festgestellt, nur eine schwere Infektion infolge eines Magenleidens.
Dr. med. Müller schilderte Minna Wagner ebenfalls als wenig wahrheitsliebend. Einmal sei sie betrunken heimgekommen.
In der Hand hatte sie eine Puppe, die in der einen Hand einen Rosenkranz, in der anderen eine Giftflasche mit einem Totenkopf hatte. »Das ist die Heusler«, sagte sie, auf die Puppe weisend.
Das Dienstmädchen Sommer bekundete, daß die Wagner oft Blutspucken simuliert habe. Auch habe sie sich Heftpflaster auf das Gesicht geklebt und behauptet, sie hätte die Gesichtsrose.
Schwester Frosch-Feuchtwangen: Mehrere Kranke haben ihr erzählt, die Wagner habe sie mit Ohrfeigen bedroht für den Fall, daß sie verraten würde, wenn sie heimlich Speisen zu sich nehme.
Kaufmann Gmöhling (Feuchtwangen): Die Wagner habe sich, nachdem sie von der ersten Verhandlung zurückgekehrt war, ein Faß Wein und später noch ein Faß Äpfelmost aus München kommen lassen. Beide Fässer seien auffallend schnell leer geworden. Die Wagner habe oftmals Krampfanfälle gehabt.
Zeugin Butzmann war in der ersten Verhandlung eine der Hauptbelastungszeuginnen. Sie war über 18 Jahre lang Wäscherin im Stift.