Leiden und Freuden eines Schulmeisters. Jeremias Gotthelf
möchte irgend jemand glauben, ich schreibe da etwas Ersinnetes ins Blaue hinein, um entweder die alte Zeit oder die alten Schulmeister zu verleumden; ich schreibe da etwas, das nie so gewesen. Nein, wertgeschätzte und allerliebste Leser (zu den Hochgeachteten rede ich nicht, die sind nicht zu brichten), ich lüge wahrhaftig nicht: so ist es vor dreißig bis vierzig Jahren nicht nur in einer, sondern in vielen Landschulen des Kantons Bern gewesen. Waren doch vor noch nicht acht Jahren Schulen in der Stadt Bern, in denen nur zwei Stunden Schreib- und Rechenunterricht in der Woche waren, und für hundertfünfzig Mädchen in einer Stube, wo nicht siebzig Platz hatten; wo schreiben und rechnen konnte, wer gerne wollte. Ich berufe mich z.B. auf einen grausam vornehmen Mann, der jetzt feine Kinder besser schulen lassen will, ob es nicht so gewesen. Der kann‘s erzählen, wie es ihm ergangen, als er die Fragen konnte, die Noten kannte, eine Menge Psalmen und Historenen auswendig wußte, und nun dem Schulmeister sagte, er möchte noch mehr lernen, er hätte wohl Zeit noch für Rechnen und Schreiben. Der kann‘s erzählen, wie er nicht zur Erfüllung seines Wunsches kam, sondern wie der Schulmeister, der rechnen und schreiben für die damalige Zeit recht ordentlich konnte, ihm sagte: »Los, Christi, was witt das lere, du bruchst das nüt; we d‘ de öppis z‘schribe u z‘rechne hest, su chum nume zu mir, i will dr‘s scho mache. We-n-e-n-iedere alles lere wett, es war grad ke Religion meh, dLüt glaube scho jetz je länger je minger.«
So hinterhielten nicht nur die Reicheren den Ärmern das Lernen, sondern auch die Reicheren konnten oft trotz dem besten Willen nicht dazu kommen, wenn der Schulmeister ein Pfiffikus und ein Politikus war. So wäscht eine Hand die andere. Die Bauren gaben dem Lehrer einen Hundelohn, bei dem er nicht leben, nicht sterben konnte; und die Lehrer halfen sich dadurch, daß sie die Bauren in der Unwissenheit ließen und dadurch zinsbar behielten in allen ihren Geschäften. So straft sich der Geiz und die unverständige Kargheit gewöhnlich. Die Bauren blieben unwissend und mußten diese Unwissenheit sehr oft mit schwerem Gelde büßen, aus welchem sie viele Schullöhne hätten bezahlen können. Aber merkwürdig bleibt es doch, daß dieses alles so geschehen konnte, und daß die Schulmeister lehren konnten, was und wie viel einer wollte; daß niemand da war, der dieser Willkür ein Ende machte. Diese Zeit ist bis auf den heutigen Tag noch nicht ganz vorüber, und das ist das merkwürdigste an der ganzen Geschichte.
Sechstes Kapitel. Wie ich auch um dieses Prinzentum komme
Durch mehrere Jahre hatte ich mein Regiment standhaft und am Ende unangefochten geführt. Da war ich herangewachsen zur Unterweisung und mit derselben ging meine Herrlichkeit zu Ende. Es war nämlich in unserer Gemeinde, wie in vielen andern, die Sitte, daß kein Unterweisungskind die Schule mehr besuchte. Und als einst ein naseweiser junger Vikar es anders wollte, sprach die versammelte ehrbare Gemeinde: Seit Menschengedenken habe kein Unterweisungskind die Schule besucht, solche Neuerungen seien gegen alle Religion. Wie ihre frommen Vorväter es gehalten, so solle es bleiben ihr lenbenlang. Wer etwas andres wolle, solle es nur probieren, sie wollen b. D. sehen. Und dabei blieb es. Noch während der Kinderjahre — denn so lange man noch nicht unterwiesen ist, ist man ein Kind, und viele bleiben Kinder bis und über das Schwabenalter hinaus, ja bis zum Tode — während dieser Zeit noch vergaßen viele bereits einen Teil des Gelernten; sie repetierten nicht mehr und in wenig Jahren war das Meiste in Wind gegangen. So hatten die Menschen im Grunde auch nicht unrecht, wenn sie behaupteten, die Schule trage eigentlich nichts ab und die Geschicktesten würden später die Schlimmsten; wenn die Kinder einmal aus der Schule seien, so rührten sie kein Buch mehr an. Da in einer Schule fast nichts getrieben wurde, als unverstandene Dinge auswendig lernen: so war mit ihrem Vergessen die ganze langjährige Arbeit verflogen; die Schule war wie eine Mühle, in welcher nur Mehlstaub gemahlen wurde, um denselben dem Winde vorzuschütten.
Wenn ich an das so recht lebhaft denke, so werde ich immer g‘wundrig, was der liebe Gott gedacht haben und einst sagen werde, zu solchen Schulen, zu der verschleuderten Zeit, zu den Schweißtropfen der Kinder, zu den Schulmeistern, die wie Eichhörnchen in einer Trülle rundum liefen aber nirgends hin. Ganz sicher wird er manches sagen, aber über die schwitzenden Kinder und die trüllenden Schulmeister wird er sich erbarmen: denn sie wußten es nicht besser, und die andern wollten es nicht besser.
Sobald ich in die Unterweisung eingeschrieben war, hörte also das Schulgehen auf, was mir sehr weh that und ich mußte zum Handwerk, ein Weber sollte ich werden. Wahrscheinlich dachte das mein Vater nicht einmal, sondern er dachte nur daran, wenn zwei weben, so sei der Verdienst größer und er könne es besser haben.
Aber Lehrbub sein bei ihm, das war eine gar strube schlimme Sache. Er hatte keine Geduld mit mir und doch mußte ich das schlechteste Garn, das alle Augenblicke riß, verarbeiten. Schläge bekam ich, wenn ich nicht fort mehr konnte, wenn ich nicht auf der Stelle alles begriff, wie der Vater es mir befahl; am meisten aber, wenn das Tuch nicht so schön gewoben war, als der Vater, ein vierzigjähriger Weber es gemacht hätte. Lust bekam ich auf diese Weise gar keine zur Arbeit, Furcht vor den Schlägen ließ mich aufpassen und arbeiten, so gut ich konnte.
Meine einzige Freude war das Besuchen der Unterweisung, über die aber der Vater, wenn sie ihm zu oft wiederkam, lästerlich schimpfte. Ehemals sei die Welt viel besser gewesen und die Leute ganz anders und doch hätte man nicht halb so viel in die Unterweisung müssen, pflegte er zu sagen. Aber ehemals hätten sie unterweisen können, es heig fry gsurret a de Wänge, u da sig der Schulmeister mit der Ruete da gsy, dä heyg eim ufgleyt bis me‘s chönne heyg. Er sehe gar nicht ein, was das Laufen abtrage. Je besser es einer könne, desto kürzer mache er es. Ich ging gar gerne in die Unterweisung, weil ich dadurch vom Webstuhl weg an die freie Luft kam und gewöhnlich noch einige Zeit in der Schule mich aufhalten konnte, wo es mich an die alten schönen Zeiten nicht wenig heimelete, so daß ich noch oft die Rute zur Hand nahm und mein altes Amt übte, bis der Pfarrer kam.
Der Pfarrer war ein alter freundlicher Herr, den wir alle lieb hatten. Er hatte mich auch lieb, denn ich war der Geschickteste, und mit mir konnte er am besten fortkommen. Wenn einige eine Frage nicht beantworten konnten, so sagte er am Ende: »Ich weiß einen, der es kann, Käser, sag du es ihnen». Ich war aber auch aufmerksam und strengte mich aus allen Kräften an, immer antworten zu können. Aber dieses Antworten können, war mir auch die Hauptsache und war allen die Hauptsache. Wer es konnte, freute sich. Die Schwachen zitterten und bebten, nicht sowohl vor dem Pfarrer, als vor dem Spott und dem Auslachen der andern. Uns unvermerkt bildete sich freilich ein Glaube, ein Fürwahrhalten, zusammengesetzt aus dem wunderlichen abergläubischen Zeug, das wir bei Abendsitzen, und aus dem, was wir in der Unterweisung hörten. Aber unser religiöses Gefühl wurde nicht erwärmt, unser Wille nicht angeregt, unsere Seele zu frommem Thun nicht begeistert. Und das alles sicher nur deswegen, weil wir all unser Sinnen dahin richteten, antworten zu können und nur auf die eigentliche Frage paßten; und weil das beständige Fragen und Antworten keine erwärmende Rede recht aufkommen ließ, und bei ungeschickten Kindern entweder grausam ermüdete oder zum Lachen reizte. Es fiel mir erst später ein, daß das Katechisieren für den eigentlichen Religionsunterricht doch nicht recht paßt. Das Katechisieren ist ein mühselig Herausklauben von Begriffen und Sätzen, recht dienlich um den Verstand zu üben und den Scharfsinn und läßt bei Kindern in vielen Fächern sich anwenden. Aber daß man dasselbe beim Religionsunterricht fast allein gebraucht und es, die Form, zur Hauptsache gemacht, und den Stoff und den Zweck dabei aus den Augen verloren, scheint mir ein Mißgriff zu sein. Namentlich in der Unterweisung, im letzten Religionsunterricht, sollten die Seelen der Kinder erhoben und gestärkt werden zu dem vor ihnen sich öffnenden Leben, und nicht bloß ihr Verstand angeregt und ihr Gedächtnis beschwert mit einzelnen Sätzen.
Darum sollte da eine freie Rede sein aber auch beim Kinde; auch es sollte fragen und nicht nur antworten. Aber, du lieber Gott, dafür müßten wir in den Schulen auch andere Kinder schaffen, müßten da einen ordentlichen Religionsunterricht zu geben verstehen. Denn das Kind, das einen rechten Religionsunterricht empfangen und fühlen soll, muß einen geöffneten Sinn bringen; dann lassen auch die höheren Seelenkräfte leicht sich anregen. Auch treibt man das Katechisieren auf die schlimmste Art, sagt alles heraus bis auf die letzte Silbe oder fragt, daß man abwechselnd ja oder nein sagen muß. Ein solches Katechisieren ist eine wahre Seelenmörderei, und ist mit die Ursache, daß den Kindern die Unterweisungen fast fruchtlos bleiben.
So verflog mir nur zu schnell der Winter, in dem jeder