Gesammelte Gedichte (851 Titel in einem Buch). Christian Morgenstern
Spiegel, riesengross.
Ein Wunderland, im klarsten Sonnenlichte,
entwächst berückend dem kristallnen Schoss.
Um bunter Tempel marmorne Gedichte
ergrünt geheimnisvoller Haine Kranz;
der Seen Silber dunkle Kähne spalten,
und wallender Gewänder heller Glanz
verrät dem Auge wandelnde Gestalten.
Wohl kenn ich dich, du seliges Gefild! ..
Doch was in heitrer Ruh erglänzt dort oben,
ist mehr als dein getreues Spiegelbild,
ist Irdisches zu Göttlichem erhoben.
Du zeigst ein friedsam wolkenloses Glück,
um das umsonst die Staubgebornen werben ...
Und doch! Auch du bist nur ein Schemenstück!
Ein Hauch-: Du schläfst im Grund in tausend Scherben.
Ein Hauch! .. Von düstren Wolken löst ein Flug
sich von der Felskluft Schautribünenstufen.
Um meinen Gipfel streift ihr dumpfer Zug,
als hätte sie mein fürchtend Herz gerufen.
Hinunter weist beschwörend meine Hand,
indes mein Aug nach oben bittet »Bleibe!« –
Umsonst! Ein Stoss zermalmt des Spiegels Rand,
und donnernd bäumt sich die gewaltige Scheibe
und stürzt, von tausend Sprüngen überzackt,
mit fürchterlichem Tosen in die Tiefen.
Der Abgrund schreit, von wildem Graun gepackt.
Blutüberströmt die Wolken talwärts triefen.
Fahlgrüner Splitterregen spritzt umher,
den Leib der Nacht zerschneidend und zerfleischend.
Mordbrüllend wühlt der Sturm im Nebelmeer
und heult in jede Höhle, wollustkreischend.
Der Berge Adern schwellen, brechen auf
und schäumen graue Fülle ins Geklüfte.
Ihr Flutsturz reisst verstreuter Scherben Hauf
unhemmbar mit in finstre Waldnachtgrüfte.
Es wogt der Forsten nasses Kronenhaar,
durchblendet von demantnem Pfeilgewimmel ..
Doch um die Höhen wird es langsam klar,
durch Tränen lächelt der beraubte Himmel.
Und bald verblitzt der letzten Scherbe Schein,
zum Grund gefegt vom Sturm- und Wellentanze.
Nur feiner Glasstaub deckt noch Baum und Stein
und funkelt tausendfach im Sonnenglanze ...
Ich schau, ich sinne, hab der Zeit nicht acht –:
Den Tag verscheuchte längst der Schattenriese.
Und aus der Tiefe predigen durch die Nacht
die Fälle vom versunknen Paradiese.
DAS KREUZ
Die gestürzten Engel
schweben um den Berg.
Mit weissen, bleiernen Riesenfittichen
schleicht ihr Flug aus den Talen,
dass er die Höhen der Erde auch
todeskältend überfinstere,
dass im Schweigen der Nacht
endlich das Leben sterbe.
Lebendige Flammen
entrief ich dem Fels
zum Schutze.
In goldenem Zorn
leuchtet das Berghaupt.
Aber die heisseste Stirn,
das glühendste Aug
ist nicht lange gefeit,
wo solcher Flügel
grabkalte Bahrtücher
der Vernichtung eisige Schauer
ins Haupt schatten.
Und fahles Grauen
würgt mir die Kehle
und reisst einen Schrei mir
aus der Brust
und wirft ihn hinaus
in die Finsternisse ..
Vom grauen Fittichgewölbe
fällt er ohnmächtig
in mich zurück.
Im Schein der mühsam
kämpfenden Lohe
trete ich, halb von Sinnen,
zum Rande des Abgrunds
und breite, wie prüfend,
die Arme aus.
Da zucken die Nebelgespenster
grausengepackt zusammen.
Ihr schnürender Reigen
löst sich, zerstreut sich.
In wildem Entsetzen
rasen heulend die Satane
um den Gipfel.
Ich aber erkenne
auf der zitternden Wand
ihrer Flügelflucht
ein mächtiges, schwarzes Kreuz.
Meines Körpers
kreuzförmiger Schatte
quält triumphierend
die Engel des Todes
hinweg, hinab,
zurück in ihr trauriges Reich.
Ich stehe noch lange,
die Arme gebreitet,
doch nicht mehr in Angst
noch als Wehr,
nein! jetzt als Gruss
und heilige Ehrung
den tausend lächelnden Lichtaugen
des unsterblichen Alls.
DIE VERSUCHUNG
Der alte, ehrwürdige Herr
mit dem grossen Bart
war heute bei mir.
»Ich habe dich gestern gerettet!«
sagte er freundlich.
»Den Einfall, die Arme
zur Kreuzform zu strecken,
hab ich dir gesteckt.«
Ich schüttelte dankbar
die biedere Rechte.
Er aber drohte mir
mit dem Finger:
»Ein Schelm bleibst du doch!
Ich traue dir nicht.
Doch höre!«
Und er kniff mir den Arm
und zeigte mir rings
die Lande –: