Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


Скачать книгу
sah un­schlüs­sig bald nach dem Re­vol­ver, wel­chen er auf den Tisch nie­der­ge­legt hat­te, bald nach der Tür und sag­te lei­se von Zeit zu Zeit: »Ich freue mich, dass ich lebe! Ich freue mich, dass ich lebe!«

      Da öff­ne­te sich die Tür, und her­ein trat has­tig und sehr bleich die Frau Klau­di­ne, gab dem schnell auf­sprin­gen­den Hugo die Hand und schloss den Sohn fest in die Arme.

      Das Schnau­fen und Schar­ren des ar­men, mü­den Ro­land drau­ßen im Schnee hat­te sie aus dem Mor­gen­schla­fe ge­weckt; sie hat­te die frem­de Män­ner­stim­me in dem Ge­ma­che un­ter ih­rer Kam­mer ge­hört, und die hef­tigs­te Angst um den Sohn trieb sie schnell vom La­ger em­por und die Stie­ge hin­ab. Schon an der Tür er­horch­te sie ei­ni­ge Wor­te und Na­men, die sie teil­wei­se be­ru­hig­ten, teil­wei­se aber auch umso hef­ti­ger er­schüt­ter­ten; und nun stand sie, blick­te von ei­nem der bei­den Män­ner auf den an­de­ren und rief: »Ihr dürft mir nichts von al­lem, was ge­sch­ah, ver­ber­gen. Sie sind die Nacht durch ge­rit­ten, und Leon­hard sen­de­te Sie, Hugo; – Sie spra­chen von Ni­ko­la; – was brin­gen Sie mei­nem Sohn und mir?«

      »Wir wol­len dir auch nichts ver­ber­gen, Mut­ter«, sprach Vik­tor so sanft, wie es sonst durch­aus nicht in sei­ner Art lag. »Du hast dei­nen Sieg über uns alle ge­won­nen; aber du wirst dich wohl wie­der ein­mal von neu­em ein­zu­rich­ten ha­ben. Ni­ko­la kommt zu dir, und ich gehe, aber dies­mal in Frie­den, und du wirst mich auch nicht zu­rück­hal­ten wol­len.«

      Die Frau Klau­di­ne er­fuhr eben­falls durch den Leut­nant von Bums­dorf al­les, was sich in der Re­si­denz zu­ge­tra­gen hat­te und was noch kom­men soll­te. Sie saß wäh­rend der Er­zäh­lung mit tief ver­hüll­tem Ge­sich­te; als je­doch Herr Hugo zum zwei­ten Mal zu Ende kam, blick­te auch sie aus feucht­glän­zen­den Au­gen fast hei­ter auf und sag­te: »Ja, gehe, mein Sohn, ich habe dich lan­ge in Schmer­zen ent­beh­ren müs­sen; doch heu­te gebe ich dir mit ru­hi­gem Her­zen mei­nen Se­gen zu dei­nem Schei­den. Du hast nur einen Weg vor dir – geh und sieh zu, dass je­nem un­se­li­gen Mann von dei­nem al­ten Ket­ten­ge­nos­sen nicht mehr ge­sch­ehe, als zu ver­ant­wor­ten steht! Du kannst nicht mit der Frau Fried­richs von Glim­mern un­ter ei­nem Da­che woh­nen – geh und sei gut, mein lie­ber Sohn! Gott hat sich als ein ge­rech­ter Gott an uns er­zeigt; Vik­tor, Vik­tor, sie­he zu und hilf, dass kein neu­es Blut über un­sern Weg flie­ße, dass kei­ne neue wil­de Tat zum Him­mel um Ra­che schreie. Ge­den­ke zu al­len Stun­den dar­an, wer von jetzt an der Sei­te dei­ner al­ten Mut­ter wan­deln und sit­zen wird, und du wirst ein tap­fe­rer Mann sein, ein star­ker und mil­der Mann.«

      »Wahr­haf­tig, das sage ich gleich­falls«, seufz­te der Herr van der Mook, »es ist gut so, wie es ist. Das sehe ich wohl ein. Und ich dan­ke auch dem jun­gen Herrn Ka­me­ra­den hier recht herz­lich für sei­nen be­schwer­li­chen Nachtritt. Er jagt mich aus ei­nem war­men Nest, du gute, alte, stol­ze Mama; aber es ist mir, als hätt ich hun­dert Jah­re lang ge­schla­fen, und bei al­lem, was le­ben­dig ist, ich freue mich, dass ich wa­che! Ich hat­te das Le­ben vor mir wie einen Tanz nächt­li­cher Spuk­ge­stal­ten und hat­te das Wort, das sie aus­ein­an­der­ja­gen konn­te, ver­ges­sen. Nun hat es ein an­de­rer aus der Fer­ne her­über­ge­ru­fen, ich wa­che – ich lebe, und ob ich gleich wie­der hin­aus­muss auf die Land­stra­ßen, der Tag ist von neu­em mein, und ich wer­de ihn be­nüt­zen, nicht wie ein Wil­der, ein Be­trun­ke­ner, ein Wahn­sin­ni­ger, son­dern wie ein ver­nünf­ti­ger Mann, ein an­stän­di­ger Ge­sell.«

      Nun hat­te die Frau Klau­di­ne schon seit ei­ni­gen Au­gen­bli­cken die Hand des Leut­nants Hugo ge­fasst und fing jetzt an, mit ihm zu re­den, als ob das Gro­ße und Ängst­li­che der Stun­de gar nicht vor­han­den sei. Müt­ter­lich be­sorgt, er­kun­dig­te sie sich nach sei­nem Be­fin­den und freu­te sich sehr, zu ver­neh­men, dass er voll­kom­men wie­der­auf­ge­taut sei und dass die Stra­pa­zen der Nacht nur von den wohl­tä­tigs­ten Fol­gen für ihn in je­der Be­zie­hung sein wür­den. Sie konn­te so­gar ein Wort des in­nigs­ten Mit­leids für den ar­men Ro­land fin­den, und wie der Herr van der Mook kam auch der Leut­nant von Bums­dorf im­mer mehr zu der Über­zeu­gung, dass die Frau Klau­di­ne doch eine »stol­ze See­le« sei.

      Um zehn Uhr hielt der Leut­nant auf dem Fuchs des Wirts zum Och­sen in Flie­gen­hau­sen in Bums­dorf vor dem Ha­ge­bu­cher­schen Va­ter­hau­se und hat­te, ehe er sich dem ei­ge­nen Hau­se zu­wand­te, ein recht an­ge­neh­mes, aber doch ziem­lich un­nö­ti­ges Ge­spräch mit dem Fräu­lein Lina Ha­ge­bu­cher.

      Um elf Uhr hat­te Vik­tor von Feh­ley­sen die Kat­zen­müh­le ver­las­sen; die Frau Klau­di­ne saß still mit ge­schlos­se­nen Au­gen in ih­rem Stuhl und horch­te auf die Schrit­te, die sich in der Fer­ne ver­lo­ren, und horch­te auf die Schrit­te, die sich aus der Fer­ne nä­her­ten. Sie be­te­te für alle – für alle; wer aber be­te­te für Un­se­re Lie­be Frau von der Ge­duld?

      Auch wir sit­zen und lau­schen einen Au­gen­blick den Fuß­trit­ten, die sich ent­fer­nen, und de­nen, die sich nä­hern; denn wir ha­ben nun­mehr zwei Wege vor uns, auf wel­chen wir die­ses Mal das Ziel un­se­rer Wan­der­schaft zu er­rei­chen ver­mö­gen. Wir kön­nen dem Herrn Kor­ne­li­us van der Mook von Stun­de zu Stun­de, von Sta­ti­on zu Sta­ti­on fol­gen und er­zäh­len, wie es ihm ge­lang, so­wohl den Baron Glim­mern wie auch den Leut­nant der Straf­kom­pa­nie Kind ein­zu­ho­len, wie bei­de ihm des­sen­un­ge­ach­tet für alle Zeit ent­gin­gen und wie er im Grun­de und sei­ner gan­zen Cha­rak­ter­ent­wick­lung ge­mäß über das letz­te­re herz­lich froh war, wenn er es sich gleich an­stän­di­ger­wei­se nicht mer­ken las­sen durf­te. Wir kön­nen aber auch einen zwei­ten Pfad ein­schla­gen, auf wel­chem die wil­den Wor­te, die har­ten Ta­ten, die schlim­men Ver­häng­nis­se uns nicht gel­lend und grell zu Ohr und Auge drin­gen, son­dern nur lei­se aus der ver­schlei­er­ten Fer­ne uns mah­nen, wie die Welt be­schaf­fen ist, in der wir le­ben, un­se­re Freu­de ha­ben und uns in al­len un­sern Kräf­ten und Emp­fin­dun­gen zur Gel­tung brin­gen wol­len. In utrum­que pa­ra­tus, zu bei­dem ge­rüs­tet, wäh­len wir die letz­te­re Art zu en­di­gen; denn wir hal­ten es we­der für eine Kunst, noch für einen Ge­nuss und am al­ler­we­nigs­ten für un­sern Be­ruf, das Pro­to­koll bei ei­ner Kri­mi­nal­ge­richts­sit­zung zu füh­ren.

      Um zwölf Uhr mit­tags kam Leon­hard Ha­ge­bu­cher mit der Frau von Glim­mern in dem Wal­de von Flie­gen­hau­sen an, und zwar an der­sel­ben Stel­le, von wel­cher aus man einst die be­wusst­lo­se Frau Klau­di­ne zur Kat­zen­müh­le trug. Er ge­lei­te­te die tief­ver­schlei­er­te Ni­ko­la durch den Wald, und nun klang nichts mehr um sie her als viel­leicht der Schnee, wel­chen ir­gend­ein Zweig, der sich von sei­ner Last be­frei­en konn­te, ab­schüt­tel­te.

      Las­set uns se­hen! Es war im Früh­ling, Som­mer und im Herbst ein hef­tig Rau­schen und Spü­len der Was­ser im obe­ren Land. Sie wur­den im has­ti­gen Schuss über Rä­der ge­zwun­gen, sie wur­den durch künst­li­che Ma­schi­nen, durch al­ler­lei Kraft in die Höhe ge­zo­gen und ab­wärts ge­stürzt, je nach dem Wil­len des Men­schen. Sie wur­den aus ih­ren na­tür­li­chen Bet­ten in künst­li­che Kanä­le über und un­ter der Erde ge­drängt und muss­ten in Schmutz und Ver­drieß­lich­keit ihre kla­ren, rein­li­chen Ge­wän­der zu­rück­las­sen. Wie der Mensch hat­ten sie we­nig Ver­gnü­gen von ih­rem Da­sein; es war eine ewi­ge Qual, ein freu­de­lo­ses Ab­ar­bei­ten bei Tag und bei Nacht: las­set uns hö­ren, was die ein­zel­nen Trop­fen, wel­che da drun­ten in der Tie­fe, in dem


Скачать книгу