Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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die Ge­len­kig­keit sei­ner Glie­der ge­prüft und al­les im bes­ten Zu­stan­de ge­fun­den. Er fühl­te sich leicht und frei, un­ge­fähr wie ein Mann, der lan­ge Zeit eine Büch­sen­ku­gel in der Sei­te trug, nun end­lich das un­be­que­me Blei­stück in der Hand hält, es mit al­ler Muße be­trach­ten und, wenn er will, es an der Uhr­ket­te be­fes­ti­gen oder die tiefs­ten phi­lo­so­phi­schen Un­ter­su­chun­gen über das Ver­hält­nis des­sel­ben zu sei­nem phy­si­schen und mo­ra­li­schen Men­schen an­stel­len kann.

      »Es soll mich wun­dern, was Täu­brich-Pa­scha dazu sagt!« sprach Leon­hard Ha­ge­bu­cher, in der Kes­sel­stra­ße vor sei­ner ei­ge­nen Haus­tür an­lan­gend, und dann kam ihm ein Ge­dan­ke, wel­cher ihn umso schnel­ler die Trep­pe hin­auf­trieb.

      »Teu­fel, wir ha­ben uns auch ja sonst noch al­ler­lei Kon­fes­sio­nen zu ma­chen. O se­des sa­pi­en­tiae, wie kam der Bur­sche dazu, den Leut­nant Kind in die­ser Wei­se der Ge­sell­schaft des Herrn von Bet­zen­dorff zu prä­sen­tie­ren?«

      Ei­lig trat er in sei­ne Stu­be und fand den Je­ru­sa­le­mi­ta­ner mit den Ar­men auf dem Gra­tu­la­ti­ons­bo­gen und mit der Nase auf dem Gra­tu­la­ti­onss­trauß in voll­stän­digs­ter Geis­tes­ab­we­sen­heit lie­gen und er­schrak selbst hef­tig vor dem Angst­schrei, den der träu­men­de Schnei­der von sich gab, als er ihm, um ihn auf­zu­rüt­teln, die Hand auf die Schul­ter leg­te. Ei­nen gel­len Schrei stieß der Pa­scha her­vor, fuhr auf vom Tisch und ge­gen die ent­fern­tes­te Wand, von wel­cher aus er ver­stör­te Bli­cke um­her­warf und mit den ha­gern Ar­men und Hän­den wind­müh­len­haft ab­weh­ren­de Be­we­gun­gen mach­te.

      »Gut Freund! Ich bin es! Be­sin­nen Sie sich, Täu­brich!« schrie der Afri­ka­ner.

      »Wer? Wer? O Je­sus, Er­bar­men!«

      Ha­ge­bu­cher nahm die Lam­pe vom Ti­sche, trat mit der­sel­ben vor den Schnei­der hin, be­leuch­te­te sich und ihn und sag­te:

      »Über­zeu­gen Sie sich ge­fäl­ligst, dass nie­mand die Ab­sicht hat, Sie zu fres­sen oder mit Ih­nen durch den Schorn­stein auf und da­von zu fah­ren. Fas­sen Sie sich – wen glaub­ten Sie vor sich zu se­hen?«

      »Im­mer ihn – mei­nen – gu­ten Freund – den Herrn Leut­nant – Kind!« ächz­te der Schnei­der. »O Gott, auf die näm­li­che Art pfleg­te er wäh­rend Ih­rer Ab­we­sen­heit stets zu kom­men, um – mir – Ge­sell­schaft – zu – leis­ten. Er hat mich auf­ge­rie­ben durch sei­ne – Zu – nei – gung; und in die­ser Nacht hat er sein Werk vollen­det und mein – Ner – ven­sys­tem für alle Zei­ten rui­niert.«

      »Kom­men Sie, Täu­brich«, sag­te Ha­ge­bu­cher zu­re­dend, »set­zen wir uns und spre­chen wir von die­ser Nacht. Sie war frei­lich be­wegt ge­nug, und auch Sie ha­ben Ihre Rol­le dar­in ge­spielt. Wie kam der Leut­nant in das Haus des Herrn von Bet­zen­dorff?«

      »Wie er im­mer kommt! Er stand hin­ter mir im Vor­zim­mer, und ein Dut­zend Glä­ser mit Li­mo­na­de gin­gen dar­über zu­grun­de. Ich hab es schon ge­sagt, die Klap­per­schlan­ge ist ein En­gel ge­gen ihn – oh, er klap­pert nicht, kein Ge­dan­ke dar­an! Er ist da, und man hat kei­nen Wil­len, so­lan­ge er einen un­ter dem Auge hält. Ich ste­he zwi­schen den Scher­ben, und er fragt grad­so wie da­mals, als er zum ers­ten Mal hier­her­kam und Sie ab­hol­te, Sidi: ›Der Herr zu Hau­se?‹ Und dann weiß ich nur, dass er mich am Arm ge­packt hält und dass ich einen an­de­ren Prä­sen­tier­tel­ler in den Hän­den tra­ge und dass wir uns durch den Saal mit­ten durch alle die Herr­schaf­ten schie­ben und dass mit ei­nem­mal die Fes­ti­vi­tät in Auf­se­hen und Schre­cken zu Ende geht und aus dem Ver­gnü­gen, Putz und Staat das al­ler­schlimms­te Durchein­an­der wird.«

      »Sie stan­den mit dem Leut­nant hin­ter dem Stuh­le des Herrn von Glim­mern?«

      »Ich muss­te wohl! Er hat­te mich ja hin­ge­führt! Es war, als kön­ne er die Sa­che durch­aus nicht ohne mich ab­ma­chen. Ja, ich stand hin­ter dem Stuh­le Sei­ner Ex­zel­lenz, und als die­sel­be auf­spran­gen und sich ge­gen den Herrn Leut­nant wen­de­ten, ließ ich das Tel­ler­brett zum zwei­ten Mal fal­len, und dann – dann nahm die Frau von Glim­mern mei­nen Arm und führ­te mich zu­rück durch den Saal, und das war noch schlim­mer als der Weg mit dem Herrn Leut­nant Kind.«

      Der Afri­ka­ner klopf­te dem Je­ru­sa­le­mi­ta­ner lei­se auf die Schul­ter und sag­te:

      »Ich dan­ke Ih­nen, Sie ha­ben Ihre Sa­che recht gut ge­macht und sich wie ein wa­cke­rer, treu­er Rit­ter auf­ge­führt.«

      »Tat ich das? Ach Gott, ich weiß es nicht; aber es ist mir lieb. Mein Herz blu­te­te, als sich die arme gnä­di­ge Dame an mich klam­mer­te, und ich hab auch aus der Gar­de­ro­be den ers­ten bes­ten Man­tel ge­ris­sen und ihr den­sel­ben um die Schul­tern ge­hängt; doch ich glau­be nicht, dass sie es ge­merkt hat. Wie hät­te ich wis­sen kön­nen, dass sie mich kann­te? Und sie kann­te mich, Sidi, und nann­te mei­nen Na­men und den Ih­ri­gen. Es woll­ten ver­schie­de­ne von den Da­men und Her­ren sie auf­hal­ten oder zu ihr spre­chen; aber sie blick­te sie nur an, und sie wi­chen zu­rück und er­schra­ken sehr; sie lie­ßen uns un­se­res We­ges zie­hen –«

      »Und sie ta­ten wohl dar­an«, mur­mel­te Ha­ge­bu­cher.

      »Wir wa­ren in der Gas­se, wie man auch wohl im Schla­fe in dem­sel­ben Au­gen­blick in al­lem Glanz und Licht und in der äu­ßers­ten Fins­ter­nis ist. Dann schau­der­te sie zu­sam­men, und dann sprach sie zum ers­ten Mal zu mir und frag­te: ›Wo­hin ge­hen wir, Täu­brich?‹ Ich er­laub­te mir na­tür­lich, zu mei­nen, nach Hau­se oder zu der gnä­di­gen Frau Mut­ter; doch sie schüt­tel­te zu bei­den Vor­schlä­gen den Kopf und ant­wor­te­te, sie habe kein Haus mehr und zu ih­rer Mut­ter möge sie nicht. O Sidi, ich hät­te sie am liebs­ten zur Kes­sel­stra­ße ge­führt, al­lein das ging doch nicht gut an, und so gin­gen wir zu der Frau Ma­jo­rin Wild­berg – ich wuss­te es eben nicht bes­ser, und dort­hin ließ sie sich ru­hig füh­ren.«

      »Gott weiß es im­mer ge­nau, wem er ein Füh­rer­amt auf­zu­le­gen hat«, sprach Leon­hard Ha­ge­bu­cher ernst; und lä­chelnd sag­te er: »Täu­brich, es wer­den vie­le Schnei­der ge­bo­ren wer­den, ehe wie­der ei­ner das Licht die­ser Welt er­blickt, der Ih­nen das Was­ser reicht. Und nun er­lau­ben Sie mir, Ih­nen mei­nen bes­ten Dank für Ihren Glück­wunsch und die­sen aus­ge­zeich­ne­ten Blu­men­strauß ab­zu­stat­ten.«

      Län­ger und im­mer län­ger zog der Pa­scha den Hals aus den Schul­tern, ein un­be­schreib­li­ches Grin­sen ver­klär­te sein Ge­sicht, je­der Mus­kel er­wach­te wie ein Win­ter­schlä­fer un­ter dem be­le­ben­den Strahl der Früh­lings­son­ne.

      »O Him­mel, o Je – ru­sa­lem, ich bit­te tau­send­mal um Ver­ge­bung, das hat­te ich ja ganz und gar ver­ges­sen!«

      »Hat gar nichts zu sa­gen, Täu­brich«, sprach Ha­ge­bu­cher. »Of­fen ge­stan­den, ich hat­te ei­gent­lich im Sinn, Sie we­gen Ih­rer ver­füh­re­ri­schen In­si­nua­tio­nen und Ih­rer un­ge­mei­nen An­la­ge zur Aus­übung al­ler häus­li­chen Tu­gen­den recht grau­sam zu be­han­deln; aber – vi­deo me­lio­ra pro­bo­que, das heißt, für dies­mal ist’s wie­der nichts, und ich den­ke, wir las­sen es nun­mehr da­bei be­wen­den.«

      Der Pa­scha sah von neu­em ein Ge­s­penst und wich aber­mals ge­gen die Wand zu­rück.

      »Sie will nicht, Täu­brich!« seufz­te Ha­ge­bu­cher.

      »Sie


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