Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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seit ges­tern, Ma­de­moi­sel­le, und vie­les, was ich ei­gent­lich eben­so gut, wo nicht bes­ser als je­ner treue, wa­cke­re Freund wis­sen müss­te. Nun gehe ich plötz­lich auch mit Ih­nen hier –«

      »Ja, wir woh­nen seit ei­ni­gen Wo­chen in Ber­lin, Herr Fritz – Herr Dok­tor. Durch wen aber wis­sen Sie das auch – seit ges­tern?«

      »Durch den Vet­ter Just.«

      Nun sah man wie­der ein­mal recht deut­lich, dass so­wohl der Dich­ter des Tex­tes zum Frei­schütz so­wie der Kom­po­nist und alle wei­sen und me­lo­di­schen und poe­ti­schen Män­ner, die das näm­li­che vor ih­nen in Ver­sen oder Pro­sa oder No­ten an­ge­merkt, das Rich­ti­ge ge­trof­fen hat­ten.

      »Ob auch die Wol­ke sie ver­hül­le, die Son­ne bleibt am Him­mels­zelt!« Wie ein Son­nen­strahl ging es über die gel­be, fal­ten­rei­che Stirn, wie freu­di­ges Leuch­ten zuck­te es aus den schwar­zen Au­gen der al­ten sœur igno­ran­ti­ne.

      »Oh mon­sieur, mon­sieur! Der Vet­ter Just! O wohl, mon­sieur Just Ever­stein! Ja, der hat uns ge­fun­den und hat uns eine Vi­si­te ge­macht, und wir wa­ren so glück­lich, ihn zu se­hen! Und er hat bei uns ge­ses­sen stun­den­lang und von der al­ten Zeit ge­spro­chen! Und er hat un­ser Kind in sei­nen gu­ten Ar­men in den Schlaf ge­tra­gen! Die Kom­tes­se hat ge­weint, als er weg­ge­gan­gen ist, aber dies­mal vor Freu­den. Nicht weil er ge­gan­gen ist, son­dern weil er ver­spro­chen hat, im­mer wie­der zu uns zu kom­men, zu uns und un­se­rem ar­men Kin­de. Und er ist wie­der­ge­kom­men und hat wie­der mit uns von der al­ten Zeit und dem Herrn Gra­fen und dem lie­ben, ar­men château de Wer­den ge­re­det. O – er hat uns ge­sucht in dem pêle-mêle, der Vet­ter Herr Just, und er hat uns ge­fun­den und nicht bloß durch einen Zu­fall. Le bon dieu hat ihm das in sein Herz ge­ge­ben, dass er es nicht an­ders konn­te, son­dern su­chen und fin­den und kom­men und da­sit­zen muss­te, um uns zum Tros­te zu sein in die­ser ar­gen, schlim­men, schlim­men Welt! Wie ein Ge­sand­ter von dem gu­ten Gott ist er uns ge­we­sen, der Vet­ter Herr Just, der mir so viel aver­si­on und ré­pug­nance hat be­rei­tet in der glück­li­chen al­ten Zeit, wenn ich euch rief zu der Lek­ti­on – sa­vez-vous? – hoch oben aus den Bäu­men und ihr nicht ant­wor­te­tet, weil ihr alle wa­ret echap­piert und – eh, eh, hat­tet euch durch­ge­schlüpft – glissés par la haie – wie die Va­ga­bon­den in die wei­te Welt und nach dem Stein­hof. Oh mon dieu, da­mals habe ich ge­weint, weil das war, nun wei­ne ich, weil das nicht mehr sein kann. Aber ma­da­me la ba­ron­ne, mei­ne Kom­tes­se, kann noch lä­cheln, wenn sie spricht mit dem Vet­ter Just da­von und von euch an­de­ren bö­sen Kin­dern; und so bin ich auch glück­lich, dass ich einst mich so sehr habe ge­är­gert.«

      Ver­ge­bens war es, mei­ner­seits ein Wort in die­sen Re­de­fluss der al­ten Dame zu wer­fen. Und sie re­de­te das al­les zu mir in ei­ner der be­leb­tes­ten Stra­ßen der großen Stadt Ber­lin, gänz­lich un­be­küm­mert dar­um, dass wir nicht al­lein dar­in gin­gen wie vor­dem wohl in der großen Lin­den­al­lee im Gar­ten von Schloss Wer­den. Wir gin­gen ih­nen al­len zu lang­sam und nah­men ih­nen al­len zu viel Platz auf dem Wege in An­spruch; aber alle hat­ten sie es auch nicht dar­um so ei­lig, um ra­scher zu ei­nem Ver­gnü­gen zu ge­lan­gen, und so war nichts ge­gen dies Ge­scho­ben­wer­den und Ge­drängt­wer­den ein­zu­wen­den.

      Dass sich Ire­ne von Ever­stein in Wien mit ei­nem Frei­herrn Gas­ton von Reh­len ver­hei­ra­tet hat­te, wuss­te ich, eben­so, dass die­se Ehe nicht glück­lich aus­ge­fal­len war. Nun wohn­te die Frau Baro­nin seit ei­ni­gen Wo­chen als Wit­we in Ber­lin mit ei­nem kran­ken Kin­de und mit ih­rer al­ten fran­zö­si­schen Sprach­meis­te­rin. Ich hat­te hun­dert Fra­gen zu stel­len und brach­te doch kei­ne ein­zi­ge über die Lip­pen. Je­der Blick in das me­lan­cho­li­sche graue Ge­sicht­chen mir zur Sei­te wur­de mir hier zu ei­nem Hin­der­nis und trieb mir das Wort von der Zun­ge zu­rück; die sœur igno­ran­ti­ne aber schwatz­te trüb­se­lig wei­ter von der gu­ten al­ten Zeit, »als der Herr Graf noch leb­te und nie­mand eine Ah­nung, ein pres­sen­ti­ment, da­von hat­te, wie die Ver­hält­nis­se für uns alle sich nach sei­nem Tode ge­stal­ten wür­den«. Des Aus­drucks chan­ger de face be­dien­te sich Ma­de­moi­sel­le Mar­tin, und es war der ganz rich­ti­ge Aus­druck: ein ganz an­de­res Ge­sicht als da­mals, wo nur der Herr Graf ge­nau wuss­te, wie schwan­kend un­se­re Stel­lung im Le­ben sei, mach­te uns heu­te die Welt!

      »Mon­sieur Ewald ist im­mer noch in Eng­land oder Ir­land; doch er will nächs­tens nach Deutsch­land zu­rück­keh­ren, hat uns neu­lich ma­de­moi­sel­le Eva ge­schrie­ben«, sag­te Ma­de­moi­sel­le. »Der Herr Vet­ter Just hat ihn in der Stadt Bel­fast par ha­sard ge­trof­fen. Ich hät­te mir gern von ihm er­zäh­len las­sen, aber der Herr Vet­ter hat nicht viel von ihm er­zählt. Das Kind war sehr un­ru­hig, und da nahm er es auf den Arm. Hélas, es ist ein sehr schwäch­li­ches Kind, mon­sieur Frédéric, und auch ein we­nig ver­wach­sen – ah, par­don.«

      Die Gute hat­te nicht nö­tig ge­habt, um Ver­zei­hung zu bit­ten. Erst durch ih­ren letz­ten halb er­schro­cke­nen Aus­ruf wur­de ich auf die un­will­kür­li­che Be­zug­nah­me auf mei­ne ei­ge­ne gleich­gül­ti­ge Per­son lä­chelnd auf­merk­sam. Ich hat­te nur an Ewald Six­tus in Bel­fast ge­dacht und an die Grün­de, die den Vet­ter Just ab­hal­ten konn­ten, von ihm der Grä­fin Ire­ne aus­führ­lich zu er­zäh­len. Mir muss­te der Vet­ter hier­über Rede ste­hen, das stand mir un­um­stöß­lich fest.

      Wir hat­ten nun die grö­ße­re Ver­kehrs­puls­ader der Stadt ver­las­sen und schrit­ten durch stil­le­re Stra­ßen.

      »Nun ich Sie wie­der­ge­fun­den habe – auch par ha­sard, Herr Fritz Lan­greu­ter! –, so müs­sen Sie uns doch nun auch wohl eine Vi­si­te ma­chen«, mein­te Ma­de­moi­sel­le. »Ich wer­de Ih­nen zei­gen un­se­re Woh­nung; doch kön­nen Sie nicht gleich mit mir ge­hen, denn ma­da­me la ba­ron­ne – mei­ne Ire­ne – ist nicht wohl heu­te. Sie müs­sen kom­men mit dem Vet­ter; ich aber wer­de sa­gen, dass ich Sie jetzt ge­trof­fen habe und dass Sie aus al­ter Freund­schaft zu uns kom­men wer­den. Darf ich das, mon­sieur Fritz? Dort woh­nen wir, im drit­ten Stock­werk; – der Herr Vet­ter Just kennt aber den Weg, und Ire­ne wird sich sehr freu­en.«

      Ich sah an dem Hau­se em­por und hielt bei­de Hän­de der al­ten, so bit­ter­sü­ßen Dame, konn­te aber nichts wei­ter her­vor­brin­gen als:

      »O Ma­de­moi­sel­le!«

      »Adieu, mon­sieur«, rief sie. »Und – au re­voir! nicht wahr, mon­sieur?«

      Die Haus­tür hat­te sich hin­ter ihr ge­schlos­sen, und ich lief ei­ligst mei­nen Weg zu­rück und nach dem Ho­tel, in dem der Vet­ter Just Ever­stein ab­ge­stie­gen war und hof­fent­lich noch auf mich war­te­te mit dem Früh­stück, zu dem er mich ein­ge­la­den hat­te.

      Sechzehntes Kapitel

      Ge­war­tet hat­te er in sei­nem Hôtel gar­ni nicht mit dem Früh­stück; auch dazu war er zu sehr der Vet­ter Just vom Stein­ho­fe ge­blie­ben. Aber er hat­te doch noch vie­le schö­ne Res­te auf dem Ti­sche über­ge­las­sen; und mit mir von neu­em herz­lich und herz­haft dar­an zu Wer­ke zu ge­hen und sich zu er­bau­en, dazu war der Vet­ter im­mer noch der Mann. Aber ich hat­te durch­aus kei­nen Ap­pe­tit mehr; selbst der sehr mä­ßi­ge, den ich vom Hau­se mit­ge­nom­men hat­te, war mir auf dem Wege un­ter der Be­geg­nung mit der wei­land sœur igno­ran­ti­ne, Ma­de­moi­sel­le Mar­tin, voll­stän­dig ver­gan­gen.

      Nun war es aber trotz


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