Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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ge­nug, dass ich mir auch in die­sem Au­gen­bli­cke, das heißt, nach­dem ich dem Vet­ter die Trep­pe hin­un­ter mit dem Lich­te vor­an­ge­gan­gen war, durch je­nes Worts sprach­li­che und be­griff­li­che Zer­glie­de­rung mei­ne Stim­mun­gen und Ge­füh­le kla­rer mach­te. Wer die­se lan­gen Jah­re hin­durch ab­we­send ge­we­sen war, das war nicht der Vet­ter Just Ever­stein, son­dern ich – ich, der ich so hübsch or­dent­lich zu Hau­se ge­blie­ben war!

      Ich schlief in die­ser Nacht nicht mehr, ob­gleich ich ziem­lich rasch zu Bet­te ging. Da lag ich und ver­such­te es, hun­dert zer­ris­se­ne Fä­den wie­der an­zu­knüp­fen, was stets ein be­denk­lich Ge­schäft ist und nicht im­mer ge­lingt, je­den­falls aber un­ge­mein sel­ten das Ge­we­be des Le­bens halt­ba­rer und glat­ter macht. Nun war es son­der­bar, wie ge­ra­de die letz­ten Ex­kur­se des wa­cke­ren Freun­des mir die hef­tigs­te Un­ru­he in das Ge­blüt ge­wor­fen hat­ten. Was er­zähl­te mir auch der Mann von dem »wei­nen­den Früh­lings­mor­gen« Eva Six­tus? Wir wa­ren doch alle – ohne Aus­nah­me – in den Som­mer des Da­seins hin­ein­ge­ra­ten. Was soll­ten mir die hüb­sche­s­ten Bil­der aus Ta­gen, die, wie der Vet­ter ganz rich­tig sich aus­drück­te, ein Jahr­hun­dert weit hin­ter uns la­gen?

      Ich wen­de­te mein Kopf­kis­sen darob fort­wäh­rend um, ohne Ruhe dar­auf zu fin­den. Bass er­grimmt (nein, das war nicht das rich­ti­ge Wort!) ent­stieg ich, als der trü­be Mor­gen ge­kom­men war, dem ru­he­lo­sen La­ger mit den Ge­füh­len ei­nes Man­nes, der eine wei­te Rei­se un­ter­nom­men hat, um alte Schul­den ein­zu­kas­sie­ren, über­all aber lee­re Ta­schen ge­fun­den hat und nun sel­ber mit lee­rer Ta­sche in ei­nem öden Gast­hofs­zim­mer sitzt. Mit ei­ner wah­ren Wut blick­te ich von ei­nem mei­ner Bü­cher­ge­stel­le auf das an­de­re. Die wei­ses­ten Au­to­ren, de­nen ich in die­sen schö­nen Mo­men­ten mit mei­ner Le­bens­rech­nung un­ter die Nase zu rücken ver­such­te, wa­ren nur im­stan­de, mir die Ge­gen­for­de­rung und Fra­ge zu stel­len:

      »Wer soll uns denn mit No­ten ver­se­hen, wenn nicht ihr Le­ben­den? Dum­mes Zeug: Trost und Be­ru­hi­gung! – Be­stä­ti­gung un­se­rer Le­bens­angst, Un­ru­he und Not wol­len wir von euch Atem­ho­len­den! Wei­ter im Tex­te!«

      Von den Schuld­nern zu den Gläu­bi­gern – den Ge­s­pens­tern, die mich in der Nacht ge­plagt hat­ten! Der Mensch hat ei­gent­lich gar kei­ne Ah­nung da­von, wie er die Wör­ter sei­ner Spra­che miss­braucht. Die Ab­ge­schie­de­nen las­sen einen wohl schon in Ruhe: es sind die le­ben­di­gen We­sen in Fleisch und Blut, die mit at­men­den, lei­den­den, sich freu­en­den Ge­nos­sen der Er­den­lauf­bahn, die da ge­wöhn­lich durch un­se­re Träu­me spu­ken ge­hen! Sind sie gar noch gute alte Freun­de und Be­kann­te und ha­ben sie dazu mun­te­re Füße, wa­cke­re Hän­de, hel­le Au­gen und rote Ba­cken und wis­sen sie mit kräf­ti­ger, sanf­ter oder gar freund­li­cher und lie­be­vol­ler Stim­me ihre Fra­gen zu stel­len in der Geis­ter­stun­de, so ist das sehr häu­fig am al­ler­be­denk­lichs­ten für un­se­re nächt­li­che Ruhe.

      Wie mit ei­nem Zau­ber­sta­be hat­te die­ser Mensch und Vet­ter Just, dazu Bür­ger der nüch­ter­nen Ve­rei­nig­ten Staa­ten von Nord­ame­ri­ka, an die dür­re Wand ge­schla­gen und das klar­äu­gi­ge Spuk­ge­sin­del über mich her­be­schwo­ren. Als ich ge­gen elf Uhr mei­nen Weg durch die be­leb­ten Gas­sen zu sei­nem Ho­tel such­te, um ihm, dem Vet­ter Just, mei­nen Ge­gen­be­such zu ma­chen, sah ich un­will­kür­lich ge­spann­ter als seit lan­ger Zeit den Be­geg­nen­den in die Ge­sich­ter und mit ei­nem ge­wis­sen ängst­li­chen Su­chen und Er­war­ten in das Ge­tüm­mel über­haupt. Was ich seit lan­gem teil­nahm­los hat­te an mir vor­bei­strei­fen las­sen, das ge­wann nach die­ser Nacht plötz­lich ein so­zu­sa­gen angst­haf­tes In­ter­es­se für mich. An­de­re Leu­te moch­ten es viel­leicht an­ders nen­nen; ich nann­te es Ge­dan­ken, was mich auf mei­nen We­gen bis heu­te durch­gän­gig ge­hin­dert hat­te, auf die Be­we­gung um mich her viel zu ach­ten. Höchs­tens är­ger­lich hat­te ich dann und wann auf- und mich um­ge­se­hen, wenn ein un­ver­mu­te­ter Puff und Knuff von Men­schen­kin­dern, die es stets ei­li­ger als ich hat­ten, mich in mei­ner Nei­gung, mit ge­senk­ter Nase hin­zu­schlen­dern und, of­fen ge­stan­den, an sehr we­nig zu den­ken, stör­te. Nun hat­te sich die­ses mit ei­nem Male ge­än­dert, we­nigs­tens für die­sen Mor­gen. Ich ging mit ge­ra­de­aus ge­rich­te­ter Nase und mit Au­gen, die nach rechts und links und manch­mal so­gar ei­nem auf­fäl­li­ge­ren In­di­vi­du­um nach­guck­ten.

      Weißt du, wer da mit dir geht oder dir ent­ge­gen­kommt? Hast du es schrift­lich, dass nie­mand dar­un­ter ist, des­sen Er­ken­nung im Hau­fen dir wich­ti­ger sein kann als das träu­me­ri­sche Ge­spins­te, in wel­ches du dei­ne fünf Sin­ne ein­ge­wi­ckelt um­her­trägst? Wür­dest du dich über kein zwei­tes un­ver­mu­te­tes Be­geg­nen an der Stra­ßen­e­cke wun­dern oder freu­en? Bist du wirk­lich so ganz al­lein und – auf dich al­lein an­ge­wie­sen un­ter den Hun­dert­tau­sen­den? Und – da stand ich schon und starr­te und brach­te im jä­hen An­hal­ten mei­ner­seits dies­mal eine Hem­mung in den Strom der Be­völ­ke­rung und auf dem Ge­sich­te des Nächs­ten hin­ter mir, auf des­sen Ze­hen ich mich mit mei­nem Ha­cken nie­der­ließ, ei­ni­gen Ver­druss her­vor. – – –

      Ma­de­moi­sel­le Mar­tin!

      Das war nicht das Ge­sicht, auf wel­ches ich in dem großen Stro­me ge­passt hat­te, – Eva Six­tus sah an­ders aus! – Aber das Wun­der und die Ver­wun­de­rung blie­ben die näm­li­chen. Ich muss­te doch noch Ma­de­moi­sel­le Mar­tin, un­se­re alte fran­zö­si­sche Sprach­meis­te­rin von Schloss Wer­den, ken­nen! Sie war es! Sie war es un­be­dingt, und wenn auch nur, um das alte Wort zu be­wahr­hei­ten: Wenn es kommt, so kommt es in Hau­fen!

      Ein grei­sen­haft, ver­schrump­felt und ver­run­zelt, et­was fan­tas­tisch auf­ge­putz­tes Müt­ter­chen wa­ckel­te sie da­her, und ich stand mit dem Hute in der Hand:

      »O Ma­de­moi­sel­le!… O Ma­de­moi­sel­le Mar­tin, wel­ches un­ge­mein er­freu­li­che –«

      »Mon­sieur?!«

      Es lag eine Welt von Fra­gen in dem einen Wort; und ich war im­stan­de zu stot­tern:

      »O, ich bit­te – Dok­tor Lan­greu­ter ist mein Name.«

      Da ging es gott­lob wie ein Lä­cheln über das sor­gen­vol­le Alt­frau­en­ge­sicht­chen der ci-de­vant sœur igno­ran­ti­ne.

      »Je, Fritz?! Mon­sieur Frédéric Lan­greu­ter! Ei, der Herr Dok­tor Lan­greu­ter! Aber, en vérité, das nen­ne ich frei­lich ein recht er­freu­li­ches Zu­sam­men­tref­fen. Ha­ben Sie mich wie­der­er­kannt, Fritz – Herr Dok­tor? O die­ses un­ver­mu­te­te Wie­der­fin­den freut mich eben­falls sehr.«

      »Und Sie ken­nen mich auch noch, Ma­de­moi­sel­le? Und ges­tern Mit­tag – o Ma­de­moi­sel­le, wel­che Wun­der kön­nen doch noch in die­ser Welt ge­sche­hen!… Ges­tern der Vet­ter Just und nun Sie, Fräu­lein Mar­tin! Und Sie ha­ben sich so we­nig ver­än­dert, dass auch das ein neu­es Wun­der ist, Ma­de­moi­sel­le.«

      »Ge­ben Sie mir Ihren Arm, mon­sieur. Durch ein paar Stra­ßen müs­sen wir sans con­di­ti­on mit­ein­an­der ge­hen. Schmei­cheln will ich Ih­nen nicht: Sie ha­ben sich sehr ver­än­dert, M. Lan­greu­ter, und hät­ten Sie mich nicht an­ge­ru­fen, so wür­de ich Sie wahr­schein­lich nicht wie­der­er­kannt ha­ben.«

      Wir pass­ten ganz zu­ein­an­der:


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