Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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län­ger. Auch Sie ha­ben reich­lich Ge­le­gen­heit ge­habt, mich ken­nen­zu­ler­nen, und hal­ten mich hof­fent­lich nicht für einen schlech­ten Cha­rak­ter, und der Papa – ja, was geht der Papa uns ei­gent­lich da­bei an? – o Se­re­na, mein lie­bes Mäd­chen, die gan­ze Welt brau­che ich wei­ter nicht, wenn ich Sie habe! Ge­ben Sie mir Ihre Hand, Se­re­na, und sa­gen Sie mir ganz of­fen, ob Sie mei­ne Frau wer­den wol­len! Sie – ich – wir – Täu­brich – ich möch­te Sie ganz für mich al­lein be­sit­zen, und dem Papa soll­te doch nichts an sei­ner Be­hag­lich­keit ab­ge­hen – wir woll­ten – wir könn­ten –«

      Na­tür­lich! Was hät­ten sie al­les ge­wollt und ge­konnt, wenn – wenn nicht Fräu­lein Se­re­na Rei­hen­schla­ger mit ei­nem zwei­ten und viel hel­lern Schrei des Schre­ckens, der Über­ra­schung meh­re­re Schrit­te zu­rück­ge­wi­chen wäre, bei­de Hän­de ab­weh­rend weit­hin von sich aus­stre­ckend?

      »Liebs­ter Him­mel, Herr Ha­ge­bu­cher! Also doch? O Gott, liebs­ter Herr Ha­ge­bu­cher! Und gra­de heu­te, o Herr Je­sus!«

      »Ich lie­be Sie in der Tat recht herz­lich, Se­re­na!« sprach Ha­ge­bu­cher, noch im­mer mit zu­ge­knif­fe­nen Au­gen über dem Gra­ben in der Luft schwe­bend. »Was mir an Ju­gend man­gelt, wer­de ich durch Lie­bens­wür­dig­keit er­set­zen. Ein un­ver­träg­li­cher Mensch bin ich nicht, und einen Haus­stand könn­ten wir uns wohl in der be­hag­lichs­ten Wei­se grün­den. Mei­ne Mut­ter wür­de sich un­be­schreib­lich freu­en, und was Ihren Papa an­be­trifft, so glau­be ich si­cher, dass er mich gern auch durch sol­che lie­be Ban­de an die kop­ti­sche Gram­ma­tik fes­seln wür­de.«

      »O Gott, Gott, Gott, das glau­be ich gern; aber das ist so schreck­lich, und die Magd wird gleich zu­rück­kom­men; was soll ich sa­gen, was soll ich tun? Lie­ber Herr Ha­ge­bu­cher, er schreibt mir gra­de heu­te, grad an die­sem Abend, und ent­schul­digt sich so sehr. In drei Ta­gen wird er selbst kom­men, al­les ist in Ord­nung und kein Hin­der­nis mehr, und der Papa oben in sei­ner Stu­be weiß auch al­les.«

      »Wer schreibt? Was schreibt wer?« rief Ha­ge­bu­cher in höchs­ter Ver­blüfft­heit und mit weit off­nen Au­gen mit­ten im Sumpf plat­schend, spru­delnd und spu­ckend.

      »Fer­di­nand! Wer denn an­ders als mein Fer­di­nand?« schluchz­te das Fräu­lein. »Hier hab ich sei­nen Brief, und er war vor Ih­nen hier im Hau­se und half wie Sie dem Papa an dem Wör­ter­buch und der Gram­ma­tik. Und der Papa schick­te ihn fort, was gar nicht recht von ihm war, und da ist er in die wei­te Welt ge­gan­gen, nach Ham­burg und nach Edin­burg und zu­letzt nach Genf, als Leh­rer der neu­en Spra­chen. Man könn­te blu­ti­ge Trä­nen wei­nen, so sehr hat er sich an al­len In­sti­tu­ten quä­len müs­sen, und jetzt grün­det er in Kom­pa­nie mit ei­nem an­de­ren ein ei­ge­nes In­sti­tut, und hier schreibt und bit­tet er um Ver­zei­hung, weil er so lan­ge nicht ge­schrie­ben habe, und über­mor­gen kommt er selbst, und der Papa weiß al­les und sieht ein, dass er jetzt nichts mehr da­ge­gen ma­chen kann. Und er ist mein Fer­di­nand, und nun sa­gen Sie sel­ber, liebs­ter Herr Ha­ge­bu­cher, was ich Ih­nen noch sa­gen soll!«

      »Ich wüss­te nicht, was mir noch zu er­fah­ren üb­rig­b­lie­be«, sprach der Mann vom Mond­ge­bir­ge sehr dumpf und wie­der­hol­te so­dann: »Er war vor mir hier im Hau­se und half wie ich dem Papa an dem Wör­ter­bu­che und der Gram­ma­tik.«

      Nach ei­ner Pau­se setz­te er noch hin­zu:

      »Da wäre ich ja­wohl wie­der ein­mal zu spät ge­kom­men? O Täu­brich, Täu­brich, Täu­brich-Pa­scha!« Und dann – dann sah er auf und sah, dass das arme gute Kind nicht mehr die Hän­de in den Schür­zen­ta­schen, son­dern die Schür­ze mit bei­den Hän­den vor die Au­gen hielt und den Schre­cken und die Be­stür­zung lei­se da­hin­ter aus­wein­te. Sanft fass­te er die­se klei­nen zit­tern­den Hän­de, zog den Vor­hang von dem pur­pur­ro­ten Ge­sicht­chen weg und sag­te:

      »Lie­bes Fräu­lein, wenn Sie dem Papa nichts von die­ser dum­men Ge­schich­te sa­gen wol­len, so wer­de ich es ge­wiss nicht tun; und was die­ses glück­li­che – die­ses er­freu­li­che Er­eig­nis be­trifft, so wün­sche ich Ih­nen und dem Herrn Fer­di­nand das bes­te, das al­ler­schöns­te Glück.«

      Das Kind hat­te be­reits von neu­em die Schür­ze vor die Au­gen ge­ho­ben und schluchz­te hin­ter ihr wei­ter und konn­te sei­nen Dank für die gu­ten Wün­sche nur durch ein schnel­les, krampf­haf­tes Kopf­ni­cken kund­ge­ben. Da Herr Leon­hard Ha­ge­bu­cher nichts mehr in der Kü­che des Pro­fes­sors Rei­hen­schla­ger zu su­chen hat­te, so ver­ließ er die­sel­be, und zwar wie­der­um auf den Ze­hen. Er trat zu­rück in den dun­keln Haus­flur und zö­ger­te einen Au­gen­blick an der Trep­pe. Soll­te er nicht doch lie­ber nach Haus ge­hen und den ar­men Täu­brich-Pa­scha bis aufs Blut durch­prü­geln, um ihn zu leh­ren, künf­tig­hin nicht so leicht­fer­tig einen Mann in der Aus­füh­rung ei­ner Dumm­heit durch all­zu in­ni­ges Ein­ge­hen auf die Her­zens­wün­sche des­sel­ben zu be­stär­ken? Nein! Ein ge­bil­de­ter Mann sucht sei­nen Über­schuss an de­te­rio­rier­tem Ner­ven­geist nicht in sol­cher Art los­zu­wer­den; ein ge­bil­de­ter Mann geht un­ter sol­chen Um­stän­den nicht nach Hau­se, um je­mand durch­zu­prü­geln, so­we­nig als er sich ins Was­ser stürzt oder eine Ku­gel durch den Kopf jagt. Leon­hard Ha­ge­bu­cher ging hin­auf zum Pro­fes­sor Rei­hen­schla­ger; wenn wir aber noch einen Blick in Se­re­na Rei­hen­schla­gers Kü­che wer­fen, so steht das Fräu­lein wie­der em­sig be­schäf­tigt vor ih­ren Töp­fen und Pfan­nen. Ein lei­ses Lä­cheln spielt um die Mund­win­kel der jun­gen Dame, und der Zwie­spalt in ih­rer See­le scheint voll­stän­dig zum Aus­trag ge­bracht wor­den zu sein.

      Der Mann vom Mond­ge­bir­ge klopf­te an die Tür des Man­nes, wel­chen er zu sei­nem Schwie­ger­va­ter hat­te ma­chen wol­len, horch­te, glaub­te von in­nen einen tie­fen Seuf­zer zu ver­neh­men und trat ein, ohne die Ein­la­dung zum Ein­tre­ten ab­zu­war­ten. Er hät­te auch lan­ge dar­auf war­ten kön­nen; die Pfei­fe war dem Pro­fes­sor Rei­hen­schla­ger er­lo­schen, und mit ihr er­schi­en auch der Pro­fes­sor er­lo­schen zu sein. Der Schein trügt: welch ein be­hag­li­ches Licht hat­te die­se Stu­dier­lam­pe in den Schnee der Win­ter­nacht hin­aus­ge­wor­fen, und wel­chen Miss­mut, wel­che Zer­schla­gen­heit an Leib und See­le be­leuch­te­te sie!

      In­mit­ten des Rüst­zeu­ges sei­ner ge­lehr­ten For­schun­gen saß der Schwie­ger­va­ter des treff­li­chen In­sti­tuts­vor­ste­hers Fer­di­nand Zwick­mül­ler, ge­beugt, ge­knickt, und blick­te nach der ge­gen­über­lie­gen­den Wand wie der Kö­nig Bel­sa­zar, mit des­sen au­ßer­bib­li­scher Ge­schich­te er sich vor ei­ner Stun­de noch harm­los und ohne eine Ah­nung des­sen, was ihm der Brief­trä­ger ins Haus trug, be­schäf­tigt hat­te.

      An wel­cher Fel­sen­wand, an wel­chem Obe­lis­ken, in wel­cher Grab­höh­le stand in Keil­schrift oder in Hie­ro­gly­phen der Trost­spruch ge­schrie­ben, durch wel­chen sich das aus den Fu­gen ge­bro­che­ne Le­ben wie­der­ein­ren­ken und zu­sam­men­lei­men ließ?

      »Wo? Wo? Wo?« rief der Pro­fes­sor, und ei­ner an­de­ren Ophe­lia gleich, mach­te er sei­ner Be­stür­zung, sei­ner Rat­lo­sig­keit halb in Pro­sa, halb in Ver­sen Luft; und was die letz­tern be­traf, so er­wach­te, wie in ei­nem Chlo­ro­form­rau­sche, die rüh­rends­te Ju­gend­poe­sie in sei­nem ver­scho­be­nen Ge­hirn.

      »Das ist eine schö­ne Be­sche­rung!« mur­mel­te


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