Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
ungeduldigen Recherchierens hatte er immer nur an den Augenblick gedacht, dass er ihn fassen musste; mit Gewalt hatte er jeden Gedanken an das, was mit dem Gefassten zu tun sei, verjagt.
Aber nun war es so weit. Nur erhob sich diese Frage: Was sollte er denn eigentlich mit dem Enno anfangen? Er wusste es doch, jetzt wusste er es wieder ganz klar: der Enno Kluge war der Kartenschreiber nicht, wusste es mit aller Klarheit. Während des Suchens hatte er sich das vernebeln können, er hatte sogar mit dem Assistenten Schröder davon geschwatzt, dass der Kluge bestimmt noch was anderes auf dem Kerbholz hatte.
Ja, eben was anderes, aber nicht dieses, nicht er hatte die Karten geschrieben! Nie! Nahm er ihn fest, brachte er ihn hierher in die Prinz-Albrecht-Straße, so würde nichts den Obergruppenführer abhalten können, den Kluge selbst zu vernehmen, und dass dann alles herauskam, nämlich gar nichts von den Karten, aber viel von einer abgelisteten Protokollunterschrift, das war klar! Nein, es war unmöglich, den Kluge hierherzubringen!
Aber ebenso unmöglich war es, den Kluge weiter draußen zu lassen, selbst unter ständiger Bewachung, nie würde Prall das zugeben. Er würde sich auch nicht mehr lange vertrösten lassen, selbst wenn Escherich ihm vorläufig die Auffindung Kluges verschwieg. Ein paarmal hatte er schon recht kräftig angedeutet, dass er diesen ganzen Fall Klabautermann in andere Hände legen würde, in etwas schlauere! Und so konnte der Kommissar sich nicht blamieren lassen – außerdem hing er an dem Fall, er war ihm wichtig geworden.
Escherich sitzt an seinem Schreibtisch und starrt vor sich hin, er zerbeißt den geliebten sandfarbenen Schnurrbart. Eine verdammte Sackgasse, sagt er bei sich. Eine verdammte Sackgasse, in die ich mich da bugsiert habe! Was ich auch tue, ist falsch, und wenn ich nichts tue, ist es erst recht falsch! Elende Sackgasse!
Er sitzt da und grübelt. Die Zeit vergeht, und Kommissar Escherich sitzt immer noch da und grübelt. Der Barkhausen – zur Hölle mit diesem Barkhausen! Er soll da nur stehen und auf das Haus passen! Er hat Zeit genug dazu! Und wenn ihm der Enno unterdes durch die Lappen geht, so wird er ihm die Eingeweide stückweis aus dem Leibe reißen! Fünfhundert Mark und gleich mitbringen! Er scheißt ihm was mit seinen fünfhundert Mark! Der ganze Enno, hundert Ennos sind keine fünfhundert Mark wert! In die Fresse wird er dem Barkhausen schlagen, so ein dämlicher Hund! Was geht ihn der Kluge an, er braucht den Kartenschreiber!
Aber dann, während er da so still sitzt und immer weitergrübelt, wird Kommissar Escherich doch vielleicht anderer Ansicht im Falle Barkhausen. Jedenfalls steht er auf und geht zur Kasse. Er lässt sich dort fünfhundert Mark geben (»wird später abgerechnet«) und kehrt in sein Zimmer zurück. Er hat im Dienstwagen in die Ansbacher fahren wollen, auch zwei von seinen Leuten mitnehmen – aber das bestellt er jetzt um, er braucht weder Wagen noch Leute.
Vielleicht ist Escherich nicht nur, was diesen Barkhausen angeht, anderer Ansicht geworden, vielleicht ist ihm auch etwas zum Fall Enno Kluge eingefallen. Jedenfalls nimmt er jetzt seinen Dienstrevolver, die Kanone, aus der Hosentasche und steckt dafür eine leichte Pistole ein, die aus einer kürzlich durchgeführten Beschlagnahme stammt. Er hat es schon versucht, das kleine Ding liegt ausgezeichnet in der Hand und schießt gut.
Nun also, gehen wir. Auf der Schwelle seines Zimmers bleibt der Kommissar stehen, dreht sich noch einmal um. Etwas Merkwürdiges geschieht: er macht, ohne es zu wollen, eine grüßende, eine abschiednehmende Bewegung zu diesem Zimmer. Lebe wohl … Ein dunkles Gefühl, eine Ahnung, deren er sich doch beinah schämt, dass Kommissar Escherich dieses Zimmer nicht so wiedersehen wird, wie er es jetzt verlässt. Bisher war er ein Beamter, der Menschen jagt, wie ein anderer Briefmarken verkauft, ordentlich, fleißig, nach den Vorschriften.
Wenn er heute aber oder erst morgen früh in dies Zimmer zurückkehrt, wird er vielleicht nicht mehr derselbe Beamte sein. Er wird sich etwas vorzuwerfen haben, etwas, das nicht zu vergessen ist. Etwas, das vielleicht nur er weiß, aber umso schlimmer: er weiß es, und nie kann er sich freisprechen.
So grüßt Escherich sein Zimmer und geht und schämt sich halb des Abschiedsgrußes. Wir werden ja sehen, sagt er beruhigend zu sich. Es kann alles noch ganz anders kommen. Erst muss ich mal mit dem Kluge reden …
Auch er benutzt die U-Bahn, und es wird schon Abend, als er in die Ansbacher Straße kommt.
»Sie können einen aber auch fein warten lassen!«, knurrt Barkhausen wütend bei seinem Anblick. »Ganzen Tag noch nischt gegessen! Haben Sie mein Geld mitgebracht, Herr Kommissar?«
»Halt die Klappe!«, knurrt der Kommissar, was Barkhausen ganz richtig für eine Bejahung nimmt. Sein Herz fängt wieder an, leichter zu schlagen: Geld in Aussicht!
»Wo wohnt der denn hier, der Kluge?«, wird er vom Kommissar gefragt.
»Weiß ich doch nicht!«, sagt Barkhausen sofort gekränkt, um etwaigen Vorwürfen zuvorzukommen. »Ich kann doch nicht hier ins Haus gehen und nach ihm fragen, wo er mich von früher her kennt! Nee, aber er wird wohl im Gartenhaus wohnen, das werden Sie schon selber rauskriegen, Herr Kommissar. Ich habe meine Arbeit gemacht, ich möchte jetzt mein Geld.«
Escherich beachtet das gar nicht, er fragt Barkhausen, wieso der Enno jetzt hier im Westen wohnt, wie er ihm auf die Spur gekommen ist.
Barkhausen muss das ausführlich berichten, der Kommissar macht sich Notizen über Frau Hete Häberle, die Tierhandlung, die abendliche Knieszene: diesmal schreibt der Kommissar alles auf. Natürlich ist der Bericht, den Barkhausen macht, nicht ganz vollständig, das kann man aber auch nicht verlangen. Niemand kann von einem Manne verlangen, dass er seinen eigenen Reinfall gesteht. Denn wenn Barkhausen berichtet, wie er zu dem Geld der Häberle gekommen ist, müsste er auch berichten, wie es wegkam. Er müsste wohl auch von den zweitausend Eiern erzählen, die jetzt schon für ihn nach München rollen. Nee, aber das kann keiner von ihm verlangen!
Wäre Escherich ein bisschen besser in Form gewesen, so wären ihm einige Ungereimtheiten in dem Bericht seines Spitzels aufgefallen. Aber Escherich ist innerlich immer noch stark mit anderen Dingen beschäftigt, am liebsten schickte er diesen Barkhausen fort. Aber er braucht ihn noch eine Weile, und so sagt er denn zu ihm: »Warten Sie hier!«, und geht wieder zu dem Haus.
Doch er geht nicht gleich in das Gartengebäude, sondern begibt sich in die Portierloge des Vorderhauses und zieht dort Erkundigungen ein. Dann erst betritt er, begleitet von dem Portier, das Gartenhaus und beginnt, langsam die Treppen bis in den vierten Stock hinaufzusteigen.
Dass der Enno Kluge hier im Hause ist, hat der Portier ihm nicht bestätigen können. Der Portier ist nur für die Herrschaften im Vorderhaus da, nicht für die Leute im Gartengebäude. Aber er kennt natürlich alle, die