Die wichtigsten Werke von Johann Karl Wezel. Johann Karl Wezel

Die wichtigsten Werke von Johann Karl Wezel - Johann Karl Wezel


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benachrichtigt.

      Beinahe wären diese Bemühungen fruchtlos gewesen, weil diese Nachrichten noch nicht den Grad der Deutlichkeit und Zuverlässigkeit dem H. v. L. zu haben schienen, um eine gerichtliche Untersuchung darauf anzufangen; wenigstens hing Christians Schluß mit den Prämissen nicht sonderlich genau zusammen. Indessen ein anderes Interesse obwaltete dabei. Der Graf S++ gab den vorigen Prozeß öffentlich für eine Wirkung einer Rachsucht, einer Mißgunst in dem H. v. L. aus und brüstete sich triumphierend mit seiner bewiesnen Unschuld. Unmöglich konnte dieser seinen Charakter so sehr in Gefahr gesetzt sehn, ohne jeden auch geringfügigen Umstand zu nützen, der nur einigermaßen seinen guten Namen zu retten versprach.

      Die Gerechtigkeit nahm sich diesmal beinahe drei Jahre Zeit zur Untersuchung und zur Entscheidung, und am Ende derselben fand sie nichts gewisser, als daß vorgefundner junger Mensch der wahrhafte Sohn des H. v. L. sei. Was sie zu dieser Entscheidung bewegte? – Ja, wer kann alles das wissen? – Wer neugierig darnach ist, lese die Akten des Prozesses, und er wird gewiß nicht zum zweiten Male neugierig werden, die Gründe der Gerechtigkeit aus Akten zu erfahren. – Einer fällt mir doch ein! Unter der Verlassenschaft der verstorbnen Kindermutter, Margrete, fand sich eine schriftliche Instruktion, mit des Grafen eigner Hand geschrieben (wie ex actis, vol. 16 bis 35 zu ersehen), worinnen der ganze Plan der Entführung enthalten war. Ohne Zweifel hatte sich die gute Kindermutter dieser Waffen zu ihrer Verteidigung nicht bedient, weil sie entweder diese Schrift nicht mehr zu besitzen glaubte oder in der Betäubung nicht daran dachte oder etc.

      Dadurch war die Wirklichkeit der Entführung bewiesen. – Aber daß der benannte Waisenknabe das entführte Subjekt war – das bewiesen die abgehörten Zeugen 1. 2. 3. 4. 5. 6. usw. – Am besten man sieht, wie gesagt, die Akten nach.

      Der junge H. v. L. war also öffentlich für das, wozu ihn seine Geburt bestimmt hatte, erklärt; er war jung genug, um die Bildung, die ihm seine verbesserten Umstände verschafften, mit Nutzen anzunehmen, aber auch zu jung, um seine Erhebung in dem gehörigen Gesichtspunkte anzusehen und sich nun nicht für einen bessern Menschen zu halten, weil er ein vornehmerer war. Unterdessen hatte doch keines von beiden für ihn völlig gute noch schädliche Wirkungen. Er gehörte in die Klasse menschlicher Maschinen, denen die Natur eine gewisse Linie der Mittelmäßigkeit im Laster und in der Tugend vorgezeichnet zu haben scheint, über welche sie keinen Fuß ein Haarbreit heben können; die eigentlich weder gut noch böse sind, ihren Weg in der Welt in geraden, langsamen Schritten fortgehen, wenn ihnen jemand in den Weg kömmt oder an sie stößt, bedachtsam ausweichen, ohne jemanden zu stoßen, er müßte denn zu hurtig laufen, daß sie nicht zeitig genug aus dem Wege kommen könnten; die zufrieden oder vielmehr in einem gewissen mittlern Zustande zwischen Zufriedenheit und Unzufriedenheit sind, wenn ihre tierischen Bedürfnisse hinlänglich gestillt und die kleinen Spiele ihrer Einbildungskraft in Bewegung gesetzt werden. Wie unterschieden und wie ähnlich war dieser Charakter und der Charakter seiner verstorbnen edlen Mutter! Ihre Güte war eine vom Verstande erleuchtete, tätige, empfindsame Güte, die aus zu großer Empfindlichkeit die Natur andrer Menschen nicht unter sich erniedrigen konnte; die seinige war tot, untätig, eine Folge der schwachen Verstandeskräfte und eines groben Mechanismus; ihre war schätzbar wegen der guten Handlungen, die sie hervorbrachte, die seinige untadelnswürdig wegen der bösen, zu welchen sie ihn unfähig machte – aber beide waren doch gut.

      Immer ist es so in der Natur! Die zwei äußersten Enden bringen in der physischen und moralischen Natur eine Erscheinung hervor. Die höchste Kälte und die höchste Hitze brennen gleich stark; die höchste Empfindlichkeit und Unempfindlichkeit machen den Charakter gleich gut – subtractis subtrahendis. Ein Mensch, dessen trockne, unfruchtbare Einbildungskraft gar keine Bewegungsgründe zum Handeln hergibt, und ein andrer, in dem sie gleich haufenweise mit der größten Deutlichkeit und Lebhaftigkeit aufspringen, sind beide gleich unentschlossen, bleiben gleich untätig. – Und sehr oft stehen Eltern und Kinder in diesem Verhältnisse miteinander, daß zwei Extreme an ihnen ähnliche Erscheinungen des Charakters erzeugen, wie in dem gegenwärtigen Falle des jungen H. v. L. und seiner würdigen Mutter.

      Weil ihn die Schwäche seiner Leidenschaften und seine ganze Natur in einen engen Wirkungskreis einschloß und besonders weil gewisse Leute von seinem Stande ihn nie um sich sehen konnten, ohne eine kleine Übelkeit zu verspüren – vermutlich weil er bis in sein zwölftes Jahr einen bürgerlichen Namen geführt hatte, sagten damals manche Leute –, und weil diese Übelkeit nach dem Tode des Vaters immer mehr zunahm und allerhand üble Folgen für die Gesundheit dieser delikaten Leute zu besorgen waren, so beschloß der Herr Major, der Patron des Kirchspiels, in welchem mein Tobias Knaut geboren ist und den meine Leser schon oben vorläufig kennengelernt haben, der Onkel und Vormund des jungen H. v. L., ihn so lange zu sich zu nehmen, bis er mündig würde, d. h. sein Geld willkürlich vertun und eine Frau nehmen könnte.

      Bei diesem Aufenthalte hatte er einen so merkwürdigen Einfluß auf die Schicksale meines Helden, daß er der Urheber von einer der wichtigsten Katastrophen seines Lebens ist.

       Inhaltsverzeichnis

      Unter den vielen Unvollkommenheiten, womit Natur und Gewohnheit den jungen Knaut versorgt hatten, war eine, die vielleicht vielen unbedeutend und gering scheinen wird und der er doch das ganze Glück seines künftigen Lebens, die Verbesserung seines Verstandes und seines Herzens, alle seine großen Eigenschaften, seine großen Handlungen schuldig ist, kurz, ohne die sein ganzes künftige Leben nicht dasselbe gewesen sein würde, gar nicht existiert hätte, ich kein Geschichtschreiber geworden wäre und besonders die folgenden Bände meiner Erzählung nicht einmal als Embryonen aus dem Nichts hervorgezogen worden wären – kurz, ohne welche nicht eine einzige Begebenheit auf dem bekannten Erdboden erfolgt wäre, erfolgte und erfolgen würde, als es geschehen ist, geschieht und geschehen wird; und diese Unvollkommenheit war – er konnte den Hut nicht anders als mit der linken Hand abnehmen. An einem so dünnen Faden, an ein Haar, das man nicht anders als durchs feinste Mikroskop erkennt, sind die Begebenheiten der Welt gereihet! Wie eine Schnure Perlen hängen sie da; man schneide den untersten Knoten weg oder das Haar in der Mitte, wo man will, entzwei; gleich wischen sie alle herunter; man setze eine einzige an einen andern Ort, und die ganze Schnur leidet eine Veränderung dabei.

      Aber wie konnte durch diesen einzigen Umstand auf die Lebensschnure des jungen Knauts eine so wichtige Begebenheit gereihet werden? – um zur Ehre meiner Muhme in der Metapher fortzufahren – und was konnte der junge L. dabei tun? – Nicht wahr, so fragt jedermann?

      Die Sache ist sehr leicht einzusehen! – Lange schon hatte ihm die Mutter, als Liebhaberin der feinen und anständigen Lebensart, harte Verweise darüber gegeben, ihm, sobald sich etwas sehen ließ, das ein Hutabnehmen verdiente, die rechte Hand auf die Hälfte des Weges nach dem Hute geführt; und wenn der Handgriff selbst gemacht werden sollte – gleich wie ein Blitz fuhr die Linke in die Höhe und nahm der Rechten den Hut weg, die alsdann langsam nach dem Mittelpunkte ihrer Schwere sich wieder zurückzog. Nichts half dawider; der Fehler des Jungen war prädestiniert, prädeterminiert, prästabiliert oder wie man's zu erklären gedenkt.

      Eines Tages, gegen Abend, als der junge Herr v. L. von der ritterlichen Übung des Scheibenschießens zurückkam, saß Tobias vor der Tür des väterlichen Hauses; seine beiden Hände dienten dem Kopfe zu einem Paare Karyatiden, so wie die Knie die Traggesimse von diesen waren; tiefdenkend, ganz in sich gekehrt saß er da und hinter ihm die Mutter. Dreimal erinnerte sie ihn, sich zum Gruße gefaßt zu machen, besonders genau über beide Hände zu wachen; aber

      Aus ihrem Gleichgewicht könnt Erd und Sonne wanken,

      Planeten regellos sich auf Planeten türmen

      Und krachend dann der aufgetürmte Haufe herniederstürzen,

      übereinander her, vor der Schulwohnung hätte er niederstürzen können, und Tobias hätte nichts davon gemerkt. Viel weniger konnte er also die Erinnerungen der Mutter vernehmen, deren Stimme doch, gegen jenes Geräusch um ein merkliches schwächer war. Der Junker war daher schon mit der ganzen Vorderseite seines Leibes


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