AUF MESSERS SCHNEIDE (The End 6). G. Michael Hopf
drei. Es ist die Frau des Präsidenten.«
Er schloss seine Augen. Vor der Unterhaltung, die er nun führen sollte, graute ihm, doch das musste erledigt werden. Er bugsierte den Sessel zurück an den Tisch, hob den Telefonhörer ab und drückte auf einen leuchtenden Knopf. »General Baxter hier«, begann er.
»Mrs. Cruz am Apparat.«
»Mrs. Cruz, guten Morgen. Ich, äh … weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber heute früh wurde ein Anschlag verübt – mit einer Bombe. Das Ziel war St. Mary's Church.«
»Und?«
»Und es geschah während des Weihnachtsgottesdienstes, Ma'am.«
»Ist Andrew tot?«
»Davon gehen wir aus, Ma'am.«
Sandy, Utah
Pablo zog den Reißverschluss seiner Jacke zu und nahm sich die Krücken, die an seiner Kommode lehnten. Dabei blickte er auf zu der Stelle, wo ein Spiegel gehangen hatte. Diesen nicht vorzufinden weckte Erinnerungen, doch sich selbst zu sehen wäre schlimmer gewesen. Seine Verletzungen und Leiden ließen sich nicht verhehlen. Sie würden ihn bis zu seinem Tod begleiten.
Draußen quietschte Annaliese vor Vergnügen.
Er ging zum Fenster hinüber und schaute hinaus, gerade als sie ihre Mutter umarmte und auf den Kopf küsste. Ein wohlwollendes Grinsen erhellte seine geschundenen Züge vorübergehend.
»Hector!«, rief Annaliese. »Kommen Sie, und sehen Sie sich das an!«
Sie nannte ihn immer noch so, obwohl sie seinen richtigen Namen kannte. Er gewöhnte sich langsam daran; eigentlich gab es in seinen Augen nichts, weswegen man sich über sie empören konnte.
Sie versuchte es wieder: »Hector!«
Er machte sich auf den Weg nach draußen. »Hier«, sprach er dann. Seine Stimme klang nach wie vor belegt und heiser.
Sie wandte sich ihm überschwänglich zu und erwiderte: »Da sind Sie ja, kommen Sie her. Mom ist gerade reingegangen. Ich brauche ein wenig Hilfe mit dem Geflügel.«
Pablo ging hinüber und blieb auf die Krücken gestützt stehen. Er hatte sich zwar weiterhin physiotherapeutisch von Annaliese behandeln lassen, doch die Gehhilfen zu benutzen war einfacher und nicht so schmerzhaft, weshalb er es so oft wie möglich tat.
»Heute Morgen war schön, nicht wahr?«, fragte sie mit Bezug auf die gemeinsame Bescherung der Familie.
»Ja.«
»Ich bin so froh darüber, dass Sie da waren und mit uns gefeiert haben.«
»Ich auch.«
Sie schwärmte noch mehrere Minuten lang, während er wie üblich mit einem oder zwei Wörtern antwortete.
»Ich glaube, sie sind fertig«, sagte Annaliese, bevor sie die beiden Fasane aus der Gusseisentonne zog, die sie als Fritteuse verwendeten, wobei sie darauf achtete, sich nicht an den wenigen Flammen und heißen Kohlen in der Mulde unter dem Behälter zu verbrennen.
»Gut«, entgegnete Pablo.
Breit grinsend legte sie das dampfende Geflügel auf eine große Platte. »Ich hatte erst frittierten Truthahn, warum also nicht mal Fasan?«
Er nickte.
Schließlich eilte sie zum Haus. »Am besten schnell rein damit. Die Temperatur muss unter dem Gefrierpunkt liegen.«
Pablo blieb dicht hinter ihr. Er konnte sich nunmehr relativ schnell mit den Krücken bewegen. Nachdem er die Stufen der Vorterrasse hinaufgestiegen war, zog er die Tür auf, gerade rechtzeitig für Annaliese.
Sie lief an ihm vorbei und in die Küche.
Dorthin folgte Pablo ihr nicht; er schloss die Tür und wandte sich ab.
Als Annaliese bemerkte, dass er nicht mehr da war, kehrte sie zum Eingang zurück und streckte ihren Kopf hinaus. »Wohin gehen Sie? Möchten Sie mir nicht beim Anrichten helfen?«
Er blieb stehen und schaute zurück. »Nein.«
Sie machte sich Sorgen, weil er sich seit Kurzem immer seltener in ihrer Nähe und im Haus aufhielt. Stattdessen war er bei seinen Männern. Sie mochte diese Soldaten nicht und machte keine Anstalten, ihren diesbezüglichen Unmut vor ihm zu verbergen.
Er hatte sein Wort ihr gegenüber gehalten und ließ die Gruppe außerhalb der Umfriedung der Ranch kampieren. Dennoch genoss er die Zeit bei ihr und schwelgte mit den Männern in Siegeserinnerungen wie ein altgedienter Veteran.
»Es ist kalt draußen; kommen Sie doch rein. Sie können ein Fläschchen Wein mit Onkel Samuel köpfen und es sich am Feuer gemütlich machen.« Annalieses Versuch, ihn ins Haus zu locken, war vergebene Liebesmühe.
»Nein, danke«, erwiderte Pablo. Wie immer fasste er sich kurz, weil sein Rachen und seine Stimmbänder beschädigt waren, weshalb ihm längeres Sprechen starke Schmerzen bereitete.
»Na gut, aber Sie verpassen was«, sagte sie und sah dabei traurig aus. »Ich melde mich, wenn das Abendessen fertig ist.«
Er nickte wieder und stieg langsam von der Vorterrasse.
Annaliese beobachtete, wie er auf einen Polaris Ranger zuging, ein Geländefahrzeug und als Leihgabe von Samuel dazu gedacht, Pablo zügig übers Grundstück zu befördern. Nachdem sie erfahren hatte, wer er war, haderte sie mit gemischten Gefühlen: Angst, Zweifel und Zorn allen voran, doch langsam erkannte sie in ihm einen sanftmütigen, liebevollen und empfindsamen Mann mit dem Herzen und der Entschlossenheit eines Löwen. Gerüchten zufolge handelte es sich um den mächtigen, schrecklichen Pablo, den Herrscher des panamerikanischen Imperiums, aber Annaliese konnte nicht glauben, es sei ein und dieselbe Person. Sie redete sich ein, der Hubschrauberabsturz habe ihn geläutert. So wie sich Saulus zu Paulus gewandelt hatte, sei Pablo zu Hector geworden.
Enttäuscht darüber, dass sie die Zeit bis zum Dinner nicht mit ihm verbringen konnte, zog sie sich in die Küche zurück und fing mit den Vorbereitungen an.
Pablo fühlte sich ihr gegenüber zutiefst zu Dank verpflichtet. Sie hatte ihn aufgenommen und sein Leben gerettet, daran gab es nichts zu rütteln. Durch Annaliese war ihm klar geworden, dass es einen anderen Weg gab, aber seit er seine Männer mit ihren Kriegsgeräten gesehen und wieder Zeit mit ihnen verbracht hatte, machte sich der alte Imperator in ihm aufs Neue bemerkbar.
Er winkte dem Wachposten am Tor, als er die Ranch verließ. Er hatte Annaliese darauf hingewiesen, dass es unnötig sei, jemanden hier einzusetzen, wo doch seine Soldaten gleich vor dem Gelände lagerten, doch Samuel bestand weiterhin darauf.
Dieser wusste nicht so recht, was er von Pablo und den Männern halten sollte, was ihn bekümmerte. Als allgemein vorsichtiger Mensch betrachtete er den Mann und seine Invasionsarmee als Bedrohung und sah es deshalb kommen, dass sowohl er selbst als auch der Rest der Gemeinschaft vor Ort den wahren Hector – so nannte ihn immer noch jeder – zwangsläufig bald kennenlernen würden.
Nachdem Pablo am höchsten Punkt eines kleinen Hügels angehalten hatte, blickte er hinab und lächelte beim Anblick seiner Streitkraft. Die Männer hatten wie er Verletzungen davongetragen und würden nie wieder dieselben sein. Sie waren dezimiert worden, aber immer noch schlagfertig und eine veritable Macht.
Als Domingo Luis das bekannte Motorengeräusch des Rangers hörte, trat er aus dem großen Zelt, das optisch einem Krankenlazarett ähnelte, und winkte. Rechts von ihm flatterten die Flagge des panamerikanischen Imperiums sowie die Farben des Bataillons im Wind. Er war ein stolzer Soldat und pflichttreu, aber sein Herz hing noch an Venezuela, weshalb er Heimweh hatte.
Pablo wählte wieder Dauerbetrieb per Schaltknüppel und fuhr geradewegs auf Luis zu.
Der grölte breit grinsend mit erhobenen Händen: »Imperator, feliz Navidad!«
»Feliz Navidad, Kommandant«, erwiderte Pablo mit seiner mittlerweile zum Markenzeichen gewordenen Reibeisenstimme.
Luis