Die kalte Braut. Stefan Bouxsein

Die kalte Braut - Stefan  Bouxsein


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gesagt, er war emotional instabil. Obwohl er sehr intelligent und erfolgreich war, plagten ihn Selbstzweifel. Er war sich nie gut genug. Und für Paulsens Ansprüche konnte er nie gut genug sein. Ich nehme an, er hat sich die Messlatte für seine Arbeit immer höher gesetzt, bis er an sich selbst scheitern musste.«

      »Wissen Sie, ob er seltsame Träume hatte?«

      »Seltsame Träume?«

      Siebels war die Idee spontan gekommen. Vielleicht gab es ein Aufputschmittel oder eine leistungssteigernde Droge, die unter Paulsens Partnern beliebt war. Mit seltsamen Träumen als Nebenwirkung. Der eine brachte sich selbst um, die andere ihren Lebenspartner. Wer weiß, was Paulsens Partner sonst noch für Leichen im Keller hatten. Siebels steckte das Stichwort Drogen in eine neue Schublade und trank seine Cola aus. Für heute hatte er genug Schubladen mit offenen Fragen gefüllt. Jetzt musste er sich um die Windeln kümmern.

      »Guten Morgen, Frau Lehmann. Wie geht es Ihnen? Sie sehen ja schon viel besser aus!«

      »Guten Morgen. Wie war noch gleich Ihr Name?«

      »Siebels. Steffen Siebels.« Siebels nahm sich einen Stuhl und stellte ihn neben das Krankenbett. »Der Arzt sagt, Sie erholen sich langsam.«

      »Vor meiner Tür sitzt ein Polizist. Warum?«

      »Der passt auf, dass Sie nicht weglaufen.« Siebels lächelte sie an. »Oder wegfahren. Wo steht eigentlich Ihr Porsche?«

      »In der Garage.« Sabine Lehmann drehte ihren Kopf zu Siebels. »Oder nicht? Wurde er etwa gestohlen?«

      »Nein, er steht bestimmt noch an seinem Platz. Aber ich kann es ja später überprüfen. Was für eine Farbe hat er denn?«

      »Dunkelblau.«

      »War bestimmt teuer, das gute Stück.«

      »Legt sich vor allem schön in die Kurven, das gute Stück.« Sabine Lehmann lächelte verschmitzt. »Ich habe auf Sie gewartet. Ich möchte Ihnen den Traum von den Alten erzählen.«

      »Frau Lehmann, wir müssen uns jetzt mal über Ihre letzten Stunden mit Sven Müller unterhalten.«

      Sabine Lehmann sank ins Kopfkissen zurück und erzählte unbeeindruckt von dem Traum.

       Vergnügt schlendere ich in der lauen Sommernacht mit nackten Füßen über den warmen Asphalt. Ich trage mein weißes Brautkleid und eine kleine weiße Lacktasche hängt lässig über meiner Schulter. In meiner Hand halte ich einen großen Schlüsselring und die vielen Schlüssel daran begleiten mich leise klirrend durch die Nacht. Nach wenigen Metern erreiche ich den Bus. Es ist ein gewöhnlicher Reisebus. An meinem Schlüsselbund finde ich den richtigen Schlüssel, ich steige ein und fahre los. Gut gelaunt lenke ich den Bus durch die Stadt und pfeife dabei ein schönes Lied. Nach der zweiten Strophe bin ich schon vor dem richtigen Haus und parke den Bus davor. »Altenheim« steht in großen Buchstaben auf der Pforte. Es ist Punkt Mitternacht, ich bin pünktlich. Ich nehme meinen Schlüsselbund, suche den richtigen Schlüssel und öffne das Tor zum Heim. Drinnen ist es stockfinster, die Alten schlafen schon alle. Ich gehe direkt in die große Küche, mache Licht und stelle zwölf Gläser auf den Tisch. Ich fülle sie mit Wasser und nehme das Röhrchen mit dem Pulver aus meiner kleinen weißen Lackhandtasche. In jedes Glas Wasser fülle ich ein wenig von dem Pulver. Dann gehe ich zu der Glocke, die im großen Saal von der Decke hängt, und fange an zu bimmeln. Das ohrenbetäubende Glockenspiel treibt die Alten in kürzester Zeit aus den Betten. Nach und nach kommen sie schlaftrunken aus ihren Zimmern die Treppe herunter geschlürft. Die Damen in Nachthemden und die Herren im Pyjama. In meinem weißen Brautkleid erwarte ich die Herrschaften in der Küche, wo die zwölf Gläser Wasser in einer Linie auf dem Tisch stehen. Als die verschlafenen Alten sich alle in der Küche versammelt haben, zähle ich durch. Es sind zwölf. »Austrinken«, rufe ich laut und deute sicherheitshalber auch mit meinem rechten Zeigefinger auf die Gläser. Die Alten nähern sich mit tappenden Schritten dem Tisch. Kurz darauf haben alle ihr Glas Wasser artig ausgetrunken. »Mitkommen«, befehle ich dann und laufe hinaus. Die Alten folgen mir im Gänsemarsch und besteigen mühsam den Bus. Als sie alle sitzen, fahre ich los. Die Alten sind benommen, das Pulver hat gewirkt. Fröhlich pfeife ich wieder ein kleines Liedchen, bis ich das Ziel nach wenigen Minuten erreicht habe. Ich öffne die Bustüren. »Aussteigen«, rufe ich den Alten zu. Dann stehe ich mit ihnen vor dem großen Tor. Es ist der Eingang zum Zoo. An meinem Schlüsselbund finde ich den passenden Schlüssel. Es ist Vollmond und im Schein des Mondes folgen mir die Alten in den Tierpark. Vor dem Löwengehege machen wir den ersten Halt. Ich öffne das Tor und deute auf zwei Alte. Wilhelm und Trude sollen den Anfang machen. Die beiden trotten in das Gehege, sie halten sich an der Hand. Eine ganze Weile passiert gar nichts. Dann plötzlich kommt ein Löwe und nimmt sie ins Visier. Ich schließe das Gehege wieder. Kurz darauf lassen sich zwei weitere Löwen blicken. Als sie noch drei Meter von Wilhelm und Trude entfernt sind, springt der erste Löwe mit einem mächtigen Satz auf Wilhelm. Kurz darauf stürzen sich die anderen beiden auf Trude.

       Ich ziehe mit den zehn verbliebenen Alten weiter zum nächsten Gehege. Die Tiger verbringen die Nacht im Käfig. Es gibt zwei Käfige. In den einen schicke ich Alfons, in den anderen Mathilde. Die Tiger ergreifen ihre Opfer viel schneller als zuvor die Löwen. Die übrigen acht Alten folgen mir wieder, jetzt geht es zu den Eisbären. Hier lasse ich Herbert und Marta zurück. Die zwei Eisbären spielen vergnügt mit den zwei Alten. Mit ihren mächtigen Tatzen hauen sie in die verschrumpelten Körper, bald sind sie nicht mehr zu erkennen. Gemeinsam mit noch sechs Alten schlendere ich unbeschwert ins Terrarium. Josef und Hilde schicke ich sogleich in die Schlangenfarm, wo sich die schwarze Mamba vom nächtlichen Besuch anscheinend bedroht fühlt. Den tödlichen Biss der knapp vier Meter langen Schlange bekommt Josef zu spüren. Um Hilde kümmern sich zwei Vipern, sie sind etwas kürzer als die Mamba, aber ihre Bisse nicht weniger giftig. Die restlichen vier Alten folgen mir zum nächsten Zwischenstopp. Im Affengehege schicke ich Ludwig und Christa zu den Gorillas. Ich muss die müden Affen erst mit Steinwürfen wecken, damit sie die Eindringlinge zur Kenntnis nehmen. Die pflanzenfressenden Gorillas begutachten die zwei Alten und schleppen sie dann weg. Kurz darauf plumpst Ludwig vom Kletterbaum herunter und bleibt unten liegen. Die Gorillas schleppen den reglosen Körper aber wieder hoch auf ihren Baum. Von Christa ist nichts mehr zu sehen. Jetzt habe ich nur noch zwei Alte zu entsorgen. Sepp und Frida schicke ich in den See. Die beiden verharren am Ufer und wollen nicht recht weiter. »Das Wasser ist flach und schön warm«, mache ich ihnen Mut und dränge die beiden voran. Zögerlich tippeln sie in den See hinein. Als ihnen das Wasser bis an die Knie reicht, raschelt es am gegenüberliegenden Ufer. Die Krokodile gleiten ins Wasser und schnappen sich die letzten beiden Alten.

       Ich schließe wieder alle Türen und Gehege im Zoo und auch das Haupttor und fahre mit dem Bus zurück zum Altenheim. Dort hänge ich ein Schild an die Tür. Geschlossen.

      

      »Wo bleibt denn das schriftliche Geständnis von dieser Frau Lehmann?« Staatsanwalt Jensen kam gerade in dem Augenblick zur Tür herein, als Siebels den Traum von den Alten in seine Akte abheftete.

      »Das fragen Sie besser Frau Lehmann. Sie denkt im Traum nicht daran, ein Geständnis abzulegen.«

      »Nein? Streitet Sie es etwa ab?«

      »Sie streitet es auch nicht ab. Sie spricht nicht über den Tathergang.«

      »Über was spricht sie dann?«

      »Über ihre Träume. Hier ist die Akte.«

      Ein Piepton machte Siebels darauf aufmerksam, dass eine E-Mail eingegangen war. Es war der Bericht der Spurensicherung zum Fall Sven Müller. Während Jensen in der Traumakte blätterte, überflog Siebels den Bericht.

      »Will die für unzurechnungsfähig gehalten werden?« Jensen knallte Siebels die Akte auf den Tisch. »Nicht mit mir. Mit diesem Blödsinn hier verlängert sie ihre Haftstrafe nur um ein paar Jahre.«

      »Ich bin mir nicht sicher, ob die Tat so abgelaufen ist, wie es den Anschein hat«, gab Siebels seine Bedenken preis.


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