Karin Bucha Paket 1 – Liebesroman. Karin Bucha
den Kopf. »Zunächst möchte ich meine Tante Feodora besuchen. Ich komme nach.«
Hertha winkt ihn zu sich, als er die Tür hinter sich geschlossen hat. Er erschrickt tief bis ins Herz hinein, als er in das wächserne, verfallene, merkwürdig leblose Gesicht Feodoras sieht.
Eigentlich ein schrecklicher Anblick, und er wirft einen prüfenden Seitenblick auf Hertha, um festzustellen, daß sie ihn tapfer erträgt.
Die Augen sind weit aufgerissen und bewegen sich hilflos von einem zum anderen. Der Mund ist schiefgezogen. Ein unnatürliches Lallen stößt er aus, dieser bis zur Häßlichkeit verzerrte Mund.
»Ich stehe vor einem Rätsel«, raunt Kempen leise Hertha zu. »Sieht Tante Feodora nicht aus, als wolle sie uns etwas sagen?«
»Das scheint mir auch so«, flüstert Her-tha zurück. Sie hält die bewegungslose Hand der Kranken.
»Wir bringen sie zu Professor Gutbrock. Wollen Sie mich begleiten? Wir fahren hinter dem Krankenwagen her. Viola ist vorlaufig bei Brigitt gut aufgehoben. Das arme Mädel. Schrecklich«, stöhnt er auf, »daß man nicht helfen kann. Und alles kam so unverhofft «
Vor Hertha geht es wie em Blitz nieder. »Sie lieben Viola?«
Erstaunt vor diesem Wissen sieht Kempen sie an. »Ja – ich liebe sie«, sagt er tiefbewegt. »Ich bin sehr glücklich, Hertha, gerade Ihnen meine zukünftige Frau anvertrauen zu können. «
»Und – Viola?« forscht sie weiter, voll Beglückung, sein großes Vertrauen entgegennehmen zu dürfen.
Ein Schatten legt sich vorübergehend auf seine sprechenden Züge. Aber seine Worte sind von unheimlich starkem Willen getragen, woraus sie erkennt, daß es für ihn, für einen Tilo Kempen, kein Hindernis gibt. Daß er alles bekommt, was er sich wünscht.
»Sie wird mich lieben lernen.«
Dieser Satz verfolgt Hertha noch lange, als sie schon neben Kempen in dem schweren Wagen sitzt und sie im gemäßigten Tempo hinter dem Krankenwagen herfahren.
Keinem anderen als Tilo Kempen gönnt sie neidlos das Glück der Erfüllung. Sie hört sich wieder sagen: »Zu einem so interessanten Mann wie sie gehört auch eine interessante Frau…«
Nun – interessant ist das liebliche Menschenkind, die wie eine Offenbarung auf sie gewirkt hat. Für Tilo Kempen wird sie Viola zu der Frau machen, die ihren Platz neben einem Kempen zu behaupten versteht.
*
Dr. Weidmann hat gut vorgearbeitet. Als sie in Professor Gutbrocks Sanatorium eintreffen, sind bereits die wichtigsten Formalitäten erledigt.
Hertha und Kempen folgen der Trage, auf der Feodora Kempen jetzt mit geschlossenen Augen liegt. Doktor Weidmann hat ihr eine Spritze gegeben, unter deren Einwirkung sie noch steht.
Eines der schönsten Einzelzimmer, mit einem Austritt in den Park, bekommt die Kranke eingeräumt. Während Hertha und Kempen auf den Professor warten, erwacht Feodora. Wieder nehmen die Augen diesen hilflosen, gequälten Ausdruck an.
»Furchtbar«, flüstert Kempen und wendet sich ab. Er stellt sich an die breite Fenstertür und starrt hinaus in den im Abendsonnenschein badenden Park.
Seine Gedanken sind voll Mitleid bei seiner Tante, aber die er an Viola verschwendet, sind voll Liebe und Sehnsucht.
Er hat sie Brigitts und Jack Harrys Fürsorge überlassen. Inzwischen wird wohl auch eine geübte Pflegerin eingetroffen sein.
Erst als Schritte draußen auf dem Gang laut werden, die sich der Tür nahen, dreht Kempen sich zurück ins Zimmer.
Ganz in Weiß gekleidet, erscheint der Professor. Tilo Kempen hat ihn schon in Gesellschaft kennengelernt, aber nur flüchtig. Seine ernste, vertrauenerweckende Art hat ihn damals schon angenehm berührt.
Er öffnet die Tür weit und läßt Oberin Magdalena den Vortritt. So gehen beide auf das Bett der Kranken zu. Plötzlich spürt der Professor, wie ihn die Hand der Oberin packt, wie sie wie erstarrt den Schritt verhält, wie sie mit unnatürlich geweiteten Augen auf die Kranke sieht.
Aber noch etwas geschieht, was zunächst wie ein Wunder anmutet. Wäh-rend die Gestalt der Oberin ohnmächtig zusammensinkt, gerade noch von dem Professor vor dem Sturz auf den Boden bewahrt, dringt aus dem Mund Feodora Kempens ein Name, der wie ein Schrei von den Wänden widerhallt.
»Franziska von Bodenbach!«
Voll Bestürzung bemüht sich der Professor um seine Oberin. Noch niemals hat er sie ohnmächtig werden sehen, selbst wenn sie von aufreibender Arbeit durchsichtig blaß erschien. Immer hat sie sich tapfer aufrecht gehalten.
Gleichzeitig durchzuckt ihn ein freudiger Schreck.
Ganz deutlich haben sie alle den Namen gehört:
»Franziska von – Bodenbach!«
Hier liegt der Schlüssel zu Magdalenas Vergangenheit. Verwirrt öffnet die Oberin die Augen, sieht sich von den Armen des Professors festgehalten und streicht sich wie erwachend über die Stirn. Dabei huscht vorübergehend ein rührend um Entschuldigung bittendes Lacheln um ihre Lippen.
»Verzeihen Sie, Herr Professor –«
Abermals fällt ihr Auge auf die Kranke, die ohne jedes Leben im Bett liegt, und ein grüblerischer Ausdruck breitet sich auf ihren Zügen aus, die von seltener Lebhaftigkeit und Spannung sind.
Der Professor läßt sie nicht aus den Augen. Jetzt spürt er mit Herzklopfen die Verwandlung dieses ihm als demütig bekannten Frauenantlitzes.
Und was er niemals in den ganzen langen Jahren erlebt bat, spielt sich jetzt vor seinen tastenden Blicken ab. In der Oberin Augen glüht es wie Haß auf, ein Gefühl, dessen er Magdalena niemals fähig hielt.
Mit drei Schritten steht sie vor dem Bett. Auch die Schärfe in ihrer Stimme hat er noch niemals vernommen. Nie war sie eine Nuance zu hoch oder zu tief. In dieser Stimme und an dem ganzen Körper Magdalenas bebt es vor verhaltender Regung.
»Du bist es, Feodora Kempen. Mein Gott!« Ihre Hand tastet an ihre Stirn. »Ausgerechnet hierher mußt du kommen?«
Die Kranke rührt sich nicht. Aber diese fordernde Stimme muß in ihr Bewußtsein gedrungen sein. Mühsam hebt sie die schweren dunklen Lider.
»Um der Gerechtigkeit willen, Feodora. Wo ist mein Kind? Sag es mir. Ich bitte dich, wo hast du es die ganze Zeit verborgen gehalten?«
Es ist eine beschwörende Bitte, die flehende Stimme einer unglücklichen Mutter, die mit heißen Tränen vermischt ist.
»Sag es mir, Feodora«, drängt Magdalena leidenschaftlich. Sonst ist nichts in dem Zimmer zu hören, kaum der Atem der drei Zuhörer, die den Hintergrund zu dieser dramatischen Szene bilden.
»Feodora! Feodora.« Die allzeit beherrschte sanfte Oberin umfaßt die Schultern der Kranken und rüttelt sie. Wilde Angst liegt in den weitaufgerissenen fahlblauen, verschwommenen Augen.
Mit aller Sanftheit hebt der Professor seine Oberin vorn Erdboden auf, wohin sie gesunken ist.
»Magdalena«, dringt seine mahnende Stimme in ihr Bewußtsein ein. »Wir haben eine Schwerkranke vor uns. Wollen Sie mcht abwarten, bis ich mich um sie bemüht habe? Sie können dann immer noch mit ihr sprechen.«
Verzweifelt klammert Magdalena sich an den Professor. Ihr Gesicht ist tränen-überströmt. »Tun Sie alles, Professor. Sie muß sprechen, hören Sie, sie muß. Ich muß wissen, was aus meinem Kind, meinem süßen kleinen Mädchen geworden ist. Nur sie kann sagen, wo Viola sich befindet.«
»Ich werde alles tun«, versucht der Professor Magdalena zu beruhigen. Er drückt unauffällig auf den Klingelknopf, und als wie auf Kommando die Stationsschwester auftaucht, übergibt er ihr Magdalena.
»Schwester, nehmen Sie unsere Oberin mit und bleiben Sie bei ihr. Sie scheint sich nicht wohl zu fühlen.«
Seine Worte sind von einem Blick, der eine einzige Bitte ausdrückt,