Die wichtigsten Werke von Jacob Burckhardt. Jacob Burckhardt
Ausschweifung schadlos zu halten. So werden die Bettelpriester bei Lucian und Apuleius zur Zeit der Antonine geschildert. Später muss wenigstens in Rom dieser Kultus der Grossen Göttin wieder eine ehrbare Seite gehabt und namentlich die Kastration aufgehört haben, indem sonst die öffentlich durch Denkmäler eingestandene Teilnahme vieler sehr angesehenen Leute sich nicht erklären liesse. Von den eigentümlichen Mysterien, welche sich mindestens seit dem dritten Jahrhundert daran anschlossen, wird weiter die Rede sein.
Das grosse Jahresfest im April gab durch seine symbolischen Begehungen, die man längst nicht mehr verstand, den Kirchenschriftstellern314 besondern Anstoss. Es begann mit der Frühlingsnachtgleiche; da wurde im Walde eine Pinie gefällt – derjenige Baum, unter welchem Atys sich verstümmelt hatte – und in Prozession zu dem Tempel der Göttin getragen, welcher zum Beispiel zu Rom an dem Palatinischen Berge lag. Eine besondere Würde, die der Baumträger (Dendrophoren), wird später mehrfach in Inschriften erwähnt; die Galli erschienen bei diesem Anlass mit aufgelösten Haaren und schlugen sich wie in rasendem Schmerze auf die Brust. Am zweiten Tage suchte man unter Trompetenschall den verirrten Atys; der dritte heisst der Bluttag, weil sich die Galli dem Andenken des Atys zu Ehren im Schatten der mit Veilchenkränzen und einem Bilde des unglücklichen Jünglings geschmückten Pinie verwundeten. Dies sind Tage der düstern, wilden Trauer, sogar einer Art von Fasten. Am vierten Tage, den sogenannten Hilarien, ging alles in ausgelassene Freude über, und dabei hielt ganz Rom mit, wahrscheinlich, weil ein älteres Frühlingsfest sich mit diesem verschmolzen hatte; sonst galt die Feier der Aufnahme des Atys unter die Unsterblichen. Der fünfte Tag war eine Pause; am sechsten wurde das Bild der Göttin – ein Kopf von schwarzem Stein in eine silberne Gestalt eingelassen – nebst den heiligen Geräten an das Wasser (zu Rom an das Flüsschen Almo) gefahren, daselbst gewaschen und dann in barfüssigem, ausgelassenem Zuge zum Tempel zurückgebracht.
So wenig der Abendländer dieses Fest nach seinem ursprünglichen mythologischen Sinn würdigen konnte, so stark muss die Gewöhnung und der willkommene Anlass zum Unfug gewirkt haben. Die Zeremonie war in der Folge eine von denjenigen, von welchen sich die Heiden gar nicht trennen wollten, und trotz der verschiedenen Monate möchte das Aufstellen des Maibaums vor den Kirchen, in Italien piantar il Maggio, ein letzter Nachklang des Festes der Grossen Mutter sein. – Eine andere Folge dieses Kultus darf man zum Teil in der Zunahme des Eunuchengefolges vornehmer Römer und Römerinnen vermuten. Im vierten Jahrhundert ist diese verschnittene Hausdienerschaft selbst in frommen christlichen Familien315 etwas, das sich von selbst versteht, das aber als blosse orientalische Mode sich nicht so leicht Bahn gebrochen hätte, wäre man nicht durch den Schwarm der pessinuntischen Göttin an den keinesweges erfreulichen Anblick jener halbschlächtigen Menschen gewöhnt gewesen.
Noch eine andere Gestalt der Grossen Göttin mag hier nur kurz erwähnt werden: die Anaïtis (Enyo) der östlichen Kleinasiaten, mit nicht minder ausgelassenem Kultus. Ihr gehörte die mächtige Tempelherrschaft zu Comana in Kappadocien, mit ihren zahlreichen Hierodulen beider Geschlechter. Man glaubt sie wiederzuerkennen316 in der schon altrömischen Kriegsgöttin Bellona, deren Priester sich alljährlich in wildem Taumel die Arme zerschnitten. Später, im dritten Jahrhundert, gab es sogar Mysterien unter diesem Namen, wobei das Blut des Bellonenpriesters auf einem Schilde aufgefangen und an die Einzuweihenden verteilt wurde317.
Ausser diesen beiden grossen Gottheiten der Semiten darf hier noch eine dritte nicht übergangen werden, obschon ihre Einmischung in die griechisch-römische Religion nicht der Kaiserzeit, sondern der Urzeit angehört: nämlich der Melkart der Phönizier, von welchem der griechische Herakles nur eine Seite ist. Sein Kultus, wenn auch jetzt unter römischem Namen, reichte von jeher so weit als die phönizischen und karthagischen Niederlassungen, und einer seiner berühmtesten Tempel war derjenige bei Gades (Cadix). In Italien und Griechenland hätte man sich mit der klassischen Auffassung des Sohnes des Zeus und der Alkmene begnügen können, allein die spätere Göttermischung nahm auch den sogenannten Tyrischen Herkules ausdrücklich in ihr grosses Pantheon auf. Eine unteritalische Inschrift aus der Zeit des Gallienus ist ihm gewidmet, ungefähr wie in neuerer Zeit die Namen und die Kopien weit entfernter Gnadenbilder auf manchen Altären wiederholt werden.
Mit allem Bisherigen sind wir nun doch imstande, ein wahrhaft lebendiges Bild des Religionszustandes von Kleinasien und Syrien in der spätem Kaiserzeit zu entwerfen. Die Mischung war jedenfalls eine sehr verschiedene, je nachdem das griechische Leben überhaupt durchgedrungen oder gehemmt worden war. Einen trüben Eindruck machen immer jene herrlichen Tempel griechisch-römischen Stiles318, die für irgendein formloses asiatisches Götzenbild erbaut waren, wo sich also das Edelste und Schönste in den Dienst der hässlichsten Befangenheit begab, weil vielleicht irgendeine Tempelherrschaft liegende Gründe, Gelder und Almosen genug beisammen hatte, um einen Luxusbau ersten Ranges zu unternehmen. Und zwar trieb der wachsende Aberglaube auch die Griechen und Römer Kleinasiens mehr und mehr diesen Altären orientalischer Götter zu, ja selbst neu auftauchenden Gottheiten, wenn nur der Dolmetscher oder Priester derselben eine genügende Frechheit besass. Man kennt aus Lucian jenen Betrüger Alexander, welcher im zweiten Jahrhundert mit seinem kleinen Schlangengott zuerst die einfältigen Paphlagonier von Abonoteichos, bald aber ganz Kleinasien und die vornehmsten römischen Beamten zum besten hatte.
Leider fehlen genügende Nachrichten über die spätere Existenz jener Tempelherrschaften überhaupt, welche Strabo zur Zeit des Augustus in nicht unbeträchtlicher Zahl gekannt hatte319. Selbst bei Palmyra ist das Verhältnis unklar, in welchem die kriegerische und handeltreibende Aristokratie zu dem grossen Sonnentempel und seinen Schätzen stand. Wie viele stumme Ruinen birgt nur dies Vorderasien der Römerzeit! Anzufangen von dem herrlichen Petra in Arabien, von der Säulenstadt Gerasa östlich vom Jordan – beides Orte, die aus den Schriftstellern der Kaiserzeit kaum dem Namen nach bekannt wären, wenn nicht die neuern Reisenden mit Erstaunen die einsame Pracht wieder entdeckt hätten.
Bei der Aufnahme vorderasiatischer Gottheiten hatte es sich schlechthin um eine neue Superstition und um eine Erweiterung des Götterdienstes gehandelt; ein neues Bildungselement kam mit diesem Kultus nicht nach Rom. Ganz anders imposant treten die Götter Ägyptens in der grossen Mischung auf. Es begleitete sie die uralte Ehrfurcht des Griechen vor der ägyptischen Priesterweisheit, in welcher man Theologie, Astronomie, Naturbeobachtung, Heilkunde und Mantik gleichmässig vollendet zu finden hoffte. Hier handelte es sich nicht um rasende Verschnittene, sondern um eine Priesterkaste, welche einst die Pharaonen und ihr Volk beherrscht und die grössten Denkmäler hinterlassen hatte.
Diese Kaste erscheint allerdings schon bedeutend herabgekommen zur Zeit der Ptolemäer, und ihre Tempelgüter werden ohne Widerstand zur Tragung der Staatslasten herbeigezogen (s. oben S. 152). Das alte Vorurteil zugunsten ihrer geheimen Weisheit ist geschwunden, seitdem auf der Düne des Delta die Stadt Alexanders sich erhoben hat, wo griechische Gelehrte und griechisch gebildete Ägypter die grösste Werkstätte des damals modernen kritischen Sammelns, Forschens und Wissens aufschlagen. Der macedonische König, seine Beamten und Soldaten werden nicht mehr von den Tempeln aus gelenkt, und seitdem lohnt es sich auch nicht mehr der Mühe, das grosse alte System priesterlichen Wissens aufrechtzuhalten. Strabo, bei Anlass seines Besuches zu Heliopolis in Unterägypten320, erzählt: »Wir sahen auch grosse Häuser, in welchen die Priester wohnten, einst Philosophen und Astronomen; aber Korporation und Tradition sind dahin, wenigstens liess sich kein Vorsteher dieser Art sehen, sondern nur Opferer und Kustoden, welche den Fremden die Sehenswürdigkeiten des Tempels erklärten.« Man zeigte u. a. die Stelle, wo einst Plato dreizehn Jahre gewohnt haben sollte, ohne den Priestern das Wesentliche ihrer Geheimnisse abgewinnen zu können; jetzt dagegen würde derjenige unter gebildeten Leuten ausgelacht,