Die wichtigsten Werke von Jacob Burckhardt. Jacob Burckhardt
den es von Seiten des Wissens eingebüsst hat.
Fürs erste ist die alte Religion noch im Lande selbst ausserordentlich stark befestigt (S. 160 ff.). Sie verdankte dies teils dem angeborenen Trotze des Ägypters, der seine Nationalität auf keine Weise besser gegen die fremden Herrscher wahren konnte, teils ihrem althergebrachten Organismus. Kein Volk der alten Welt hatte sein ganzes Leben so völlig von heiligen Lehren und Vorschriften abhängig gemacht wie das ägyptische. Die besten Kräfte der Nation sind hier seit Jahrtausenden darauf gewandt worden, das Verhältnis zum Überirdischen durch Symbole zu verherrlichen; Tempelbau, Feste, Opfer und Begräbnis nehmen einen Raum ein, neben welchem das bürgerliche Leben, der Ackerbau und der Handel nur eine untergeordnete Geltung können behauptet haben. Ein solcher Zustand, der nie gründlich abgeschafft oder durch etwas wesentlich Neues verdrängt worden war, musste noch auf das stärkste nachwirken. Noch standen die meisten Tempel unberührt; was Kambyses und die Perser zerstört hatten, davon hielt ein leidenschaftlicher Abscheu das Andenken selbst in der römischen Zeit frisch. Die Priester, welche noch die Paläste bei und an den Tempeln inne hatten, taten ohne Zweifel das Mögliche, um die Orakel und Opfer in Glanz und Ehren zu halten und die Prozessionen durch die weiten Hallen und Hofräume, durch die Alleen von Sphinxen und Widdern mit alter Pracht zu feiern. Wenn wir annehmen dürften, dass die ganze Hierarchie noch in demselben Umfang fortgedauert habe, wie sie unter den Ptolemäern nachzuweisen ist321, so würde dies ein Heer von geweihten Personen ausmachen. Zwar hatte man dieser gefährlichen Macht die Spitze abgebrochen; die Ptolemäer hatten den Oberpriester ihrer eigenen vergöttlichten Person mit dem Oberpriester von ganz Ägypten identifiziert und ihm seinen Sitz in Alexandrien angewiesen; auch die Römer wussten sich zu helfen, wenigstens unter Hadrian versah diese Stelle eines »Oberpriesters von Alexandrien und ganz Ägypten« ein Römer, L. I. Vestinus, der zugleich Vorsteher des Museions von Alexandrien war322. Aber die Masse der Priester bestand ohne Zweifel fortwährend aus Ägyptern; da war der Prophetes, welcher Orakel spendete oder gewisse besonders heilige Opfergebräuche vollzog; die Hierostolen, welche die Garderobe der Götterbilder besorgten; die Pterophoren, welche Flügel auf den Köpfen trugen; die Hierogrammateis, welche einst alle heilige Weisheit verwalteten, jetzt aber schon zu Traumdeutern degradiert sein mochten; die Horoskopen oder Sterndeuter; die Pastophoren, welche in den Prozessionen die Gehäuse mit den Götterbildern trugen; die Sänger, die Stempeler der Opfertiere; die Hüter der heiligen Tiere; die verschiedenen Rangklassen der Einbalsamierer und Grabwärter; endlich zahlreiche Tempelsklaven, welche teils wie Mönche in freiwilliger Klausur lebten, teils als Terminierbettler herumgingen. Um die Serapistempel, namentlich den bei Memphis herum, lagen schon seit dem zweiten Jahrhundert v. Chr. die Zellen jener »Eingeschlossenen«, welche durch lebenslangen Kerker in der Nähe des Gottes »rein« zu werden hofften; offenbar das nahe und unleugbare Vorbild der christlichen reclusi; sie erhielten ihre Nahrung nur durch das Fensterchen und starben in diesen Löchern323. – Vollständig oder unvollständig erhalten, hatte diese ganze grosse Schar nur das eine Interesse: den ägyptischen Aberglauben mit allen Kräften aufrecht zu halten und auch den Römern soviel als möglich zu imponieren.
Neben einer grossen Anzahl mehr oder weniger lokal gedachter Götter hatten überall die allgemeinen ägyptischen Gottheiten Isis, Osiris, Anubis ihre Tempel. In Alexandrien und mehrern andern Städten kam hinzu der aus Sinope geholte, vorgeblich mit Osiris als Totengott verwandte Serapis, dessen Tempel als eines der Wunder der antiken Baukunst galt und von Anbauten umgeben war, welche seit dem Untergang des Museions unter Aurelian die noch immer höchst wichtigen wissenschaftlichen Anstalten, unter anderm die eine grosse Bibliothek, enthielten. Es ist der Mühe wert, die Aussage Rufins324, so fabelhaft und undeutlich sie klingt, in betreff dieses ausserordentlichen Gebäudes anzuhören, weil sich hier klarer als sonst erkennen lässt, wie sehr sich der Hellenismus in dieser Heimat alles Aberglaubens der nationalen Denkweise zu fügen wusste. Das Serapeion, auf hundertstufigem Untersatz hoch über die Stadt emporragend, scheint ein riesiger Gewölbebau gewesen zu sein, der auf allen vier Seiten mit Kammern, Treppen und geheimen Gängen, oben sogar mit Priesterwohnungen und jenen Zellen für Büsser umgeben war; dann lief ein vierfacher Portikus entweder um das Gebäude selbst oder erst um einen Hofraum herum. An dem ganzen Tempel war das prachtvollste Material, auch Gold und Elfenbein nicht gespart. In der grossen mittlern Halle stand das Bild des Gottes, überaus kolossal, so dass es mit den ausgestreckten Händen die beiden Seitenmauern berührte325; es war nach Art der Chryselephantinstatuen aus verschiedenen Metallen über einen hölzernen Kern zusammengesetzt, die nackten Teile von irgendeiner wahrscheinlich geheiligten Holzart. Die Wände waren mit Erz bekleidet, hinter welchem die alexandrinische Phantasie eine zweite Bekleidung von Silber und eine dritte, innerste, von Goldblech vermutete. Der ganze grosse Raum war dunkel und also auf künstliche Beleuchtung berechnet; nur an dem Festtag, da man das Bild des Sonnengottes auf Besuch zu Serapis brachte, wurde in einem bestimmten Augenblick eine kleine Öffnung gegen Osten aufgedeckt, durch welche plötzlich der glühende Sonnenschein auf die Lippen des Serapisbildes fiel, und dies nannte man den Sonnenkuss. Andere optische und mechanische Künste, wozu der Tempel wie ein Theater eingerichtet gewesen sein muss, werden nicht näher bezeichnet, oder sie sind von durchaus märchenhafter Art, wie die Geschichte von dem Magnet in der Decke, welcher das aus dünnem Eisenblech gefertigte Sonnenbild in der Luft schwebend erhielt, was später bekanntlich auch vom Sarge Mohammeds berichtet wird. Der Tempel war sonst noch, wie die Serapistempel überhaupt, berühmt für die sogenannte Inkubation; Kranke nämlich schliefen daselbst oder schickten andere zum Schlafen hin, um in gottgesandtem Traum326 das Mittel der Genesung zu erfahren; eine Methode, welche die Griechen in ihren Asklepiostempeln ebenfalls anwandten und welche Anlass gab, die beiden Götter geradezu miteinander zu identifizieren. – Übrigens war in der ganzen Stadt jede Wand, jeder Türpfosten mit einem Symbol des grossen Gottes bezeichnet, wozu noch zahllose Tempel, Kapellchen und Bilder aller übrigen Gottheiten auf allen Gassen kamen327. Jene Einrichtung auf betrügerische Phantasmagorie u. dgl. glaubte man freilich auch in andern Tempeln zu finden oder voraussetzen zu dürfen; so war in dem Tempel eines Gottes, der in dem lateinischen Bericht als Saturn bezeichnet wird328, das grosse Bild an die Wand angelehnt und innen hohl, so dass ein Priester hineinsteigen und durch den offenen Mund reden konnte; die Tempelleuchter hatte man zu plötzlichem Erlöschen präpariert. Doch war vielleicht gar manches dieser Art kein absichtlicher Betrug, sondern eine von jedermann zugestandene und gekannte Maschinerie zum Behuf der grossen symbolischen Feiern, an welchen das alte Ägypten von jeher reich war; wer dabei den einfältigen Fanatismus hatte, durchaus an Wunder zu glauben, dem widersprachen natürlich die Priester nicht. Wir werden dieselben allerdings mit Theurgie und Geisterbannung beschäftigt finden, allein sie stehen selber mitten in dem Wahne, wenigstens nicht ganz als Betrüger ausserhalb desselben. Denn der Aberglaube war hier die eigentliche Lebensluft geworden; noch ganz spät treibt die ägyptische Götterfamilie neue Schösslinge, wie zum Beispiel Serapis selbst und der hässliche Canopus, welcher in der gleichnamigen Deltastadt als ein Krug mit menschlichem Kopf und Extremitäten verehrt wurde. Zu Strabos Zeit war Canopus mit seinen Wirtshäusern der Lieblingsausflug der Alexandriner gewesen; der Nilkanal, auf welchem man hinausfuhr, war Tag und Nacht belebt durch Barken voller Weiber und Männer, welche zum Flötenspiel tanzten und sich aller Ausgelassenheit ergaben329. Damals war noch ein Serapistempel, wo man ebenfalls Kurträume hatte, das Hauptgebäude der Stadt; später tritt das Heiligtum des Canopus selbst in den Vordergrund und wird im vierten Jahrhundert eine hohe Schule aller Zauberei330.
Von der Fortdauer und Rivalität