Rocking The Wall. Bruce Springsteen. Erik Kirschbaum
beherrschten Ostberlin, der „Hauptstadt der DDR“.
Irgendwann dämmerte mir, dass der Springsteen-Auftritt am 19. Juli 1988 mehr als nur ein musikalisches Highlight gewesen sein könnte. Er spielte im Sommer 1988, und keine 16 Monate später sollte die Mauer fallen. Gab es einen Zusammenhang zwischen dem Konzert, der friedlichen Rebellion, die sich nur Monate später Bahn brechen sollte und dem Fall der Mauer am 9. November 1989? Diese Frage beschäftigt mich seitdem. Für mich steht fest, dass es eine enge Verbindung gibt zwischen der Begeisterung, die Springsteens Auftritt in Ostberlin auslöste, zwischen der Ermutigung an die Jugend der DDR durch seinem Appell, alle Barrieren zu überwinden und der Aufbruch- und Wechselstimmung, die das Land in den Monaten danach ergriff und an dessen Ende der Mauerfall stand.
Ich wollte mehr über die Ereignisse im Juli 1988 in Ostberlin herausfinden, als Springsteen auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs reiste. Aber würde ich ein Vierteljahrhundert später noch jemanden finden, der mir aus erster Hand berichten konnte? Diese Sorge erwies sich als völlig unberechtigt, es war viel einfacher, als ich dachte und das hatte einen guten Grund: Das Konzert hinterließ einen so bleibenden Eindruck, dass es bei meinen Recherchen schien, als könnten sich wirklich alle an das erinnern, was sie damals erlebt hatten. Es schien, als sei die ganze DDR entweder live beim Konzert dabei gewesen oder habe es zumindest am Fernseher verfolgt. Es war wie einer jener historischen Momente, bei denen man auch nach Jahrzehnten noch genau weiß, was man damals gemacht hat.
Ich habe für dieses Buch mit zahllosen Augenzeugen gesprochen – mit Fans und professionellen Beobachtern, Historikern und Soziologen –, immer auf der Suche nach der Antwort auf die eine Frage: Hatte die Vier-Stunden-Vorstellung Springsteens, hatte sein furchtloser Ruf nach einem Ende der Mauer etwas mit der friedlichen Revolution zu tun, die bald danach folgte?
Ob man Springsteen einen Beitrag zur Wende in der DDR und ihrem Ende zubilligt oder nicht, hat auch damit zu tun, wie viel revolutionäre Sprengkraft man der Rockmusik generell zugesteht, ob man an die Macht von Rock ’n’ Roll glaubt oder nicht.
Zu denen, die an die politische Kraft der Rockmusik glauben, gehört Philip Murphy, langjähriger US-Botschafter in Deutschland und begeisterter Springsteen-Fan. Auch wenn er selbst damals nicht in Ostberlin war, bescheinigt Murphy seinem Landsmann aus New Jersey beachtlichen Einfluss auf die Stimmung in der damaligen DDR. „Ich kenne und liebe die Musik Springsteens und kann mir vorstellen, welche Wirkung das Live-Konzert auf ein ostdeutsches Publikum gehabt haben muss, auf Menschen, die unter einem autoritären Regime lebten und litten und sich so sehr nach Wandel sehnten.“ Noch deutlicher formuliert es Jörg Beneke, der als Zuschauer dabei war: Das Konzert sei „der Sargnagel“ für die DDR gewesen, der Anfang vom Ende der kommunistischen Herrschaft, dessen ist er sich noch heute sicher.
Ohne jeden Zweifel ist das Springsteen-Konzert in Ostberlin ein herausragendes Beispiel für den Einfluss, den Rockmusik auf gesellschaftlichen Wandel haben kann, wenn sie auf ein Publikum trifft, das hungrig auf und bereit zu Veränderungen ist. Dies ist die bislang unerzählte Geschichte eines einzigartigen Konzerts in Ostberlin und die Rolle, die Bruce Springsteen – vielleicht unwissentlich – gespielt hat, als er eine Rebellion, die sich bereits warmlief, weiter anheizte und einen Aufstand befeuerte, der schließlich die Mauer wegfegen sollte.
Erik Kirschbaum
Das originale Konzertticket mit „Nikaragua“-Aufdruck
Foto: Gerald Ponesky
EINLEITUNG
You can’t start a fire without a spark
Dancing in the Dark
Bruce Springsteen bereitete sich backstage auf das vielleicht wichtigste Konzert seiner Karriere vor, eingepfercht in ein Kabuff, das provisorisch als Umkleidekabine hergerichtet war. Auch die Bühne, vor der sich das riesige Gelände der einstigen Ostberliner Trabrennbahn an diesem 19. Juli 1988 zunehmend mit Hunderttausenden Menschen füllte, war eilig und reichlich improvisiert errichtet worden. Springsteen war mit 38 Jahren auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Unterwegs auf seiner „Tunnel of Love Express“-Tour durch Europa hatte sich überraschend die Möglichkeit ergeben, ein Konzert hinter dem Eisernen Vorhang in Ostberlin zu geben. Und so wurde der Abstecher in die DDR nur wenige Wochen vor dem Konzert in den Tourplan aufgenommen. Trotz aller Improvisation und fehlender Perfektion: Diese Gelegenheit wollte sich Springsteen nicht entgehen lassen, und so saß er nun in seiner Kabine auf dem riesigen Feld im Ostberliner Stadtteil Weißensee – in der „Hauptstadt der DDR“.
Die Luft war angespannt mit Vorfreude und Aufregung über den Besuch eines der größten westlichen Rockstars seiner Zeit. Springsteen mag die Inspiration für seine Songs über die Flucht der Unterprivilegierten aus der Trostlosigkeit, den Kampf der einfachen Leute um Würde und Gerechtigkeit aus seinen Erlebnissen in seinem Heimatstaat New Jersey gewonnen haben. Aber die Botschaft seiner Songs, die mal melancholisch, mal explosiv-kraftvoll vorgetragene Sehnsucht nach Freiheit und Geborgenheit, nach Liebe und Aufbruch, die Mischung aus Verzweiflung und Aufbegehren – diese Botschaft war universell und sie verfing auch und gerade bei einem Publikum in der DDR, der Deutschen Demokratischen Republik, das von einem autoritären Regime alter Männer drangsaliert und hinter der Mauer und dem Eisernen Vorhang eingesperrt wurde. Und so wälzte sich ein nicht enden wollender Strom von Menschen schon seit dem frühen Nachmittag dieses milden Sommertages auf das regennasse Wiesengelände, das einmal die traditionsreiche Berliner Pferderennbahn gewesen war.
Trotz der erwartungsvollen und friedlichen Atmosphäre auf dem Feld war die Stimmung hinter der Bühne angespannt, als der Konzertbeginn näher rückte, und die Menge auf dem Gelände weniger als fünf Kilometer von der Mauer entfernt auf 300.000 Menschen – vielleicht sogar eine halbe Million – angewachsen war.
An den Eingängen hatte es ein derartiges Gedränge gegeben, dass die Veranstalter der FDJ (Freie Deutsche Jugend), des Jugendverbandes des kommunistischen Landes, kurzerhand die Absperrgitter beiseite räumten und die Leute fast unkontrolliert auf das Gelände strömen ließen. Allein das