Rocking The Wall. Bruce Springsteen. Erik Kirschbaum
hatte es Springsteen vermieden, in großen Arenen aufzutreten. Zu sehr war er besorgt, dass in dieser Umgebung die Intimität, aber auch die musikalische Durchschlagskraft verloren gehen könnte. Aber bei allen Schritten die Karriereleiter hinauf – von kleinen Clubs in New Jersey über kleinere Konzertsäle, größere Säle und schließlich Stadien – stellte er fest, dass es viel besser lief, als er vermutet hatte. Das lag einmal an dem technischen Fortschritt in der Soundtechnik, aber nicht zuletzt lag es auch daran, dass Springsteen bis ins Detail daran arbeitete, dass jeder Zuschauer auf jedem Platz im Stadion oder der Halle für sein Geld eine gute Qualität geboten bekam. Dabei war Geld offenbar nie die treibende Kraft hinter dem beständigen Wachstum, Springsteen wollte und will in allererster Linie Musik machen und Menschen damit bewegen.
In der Mitte der 80er-Jahre wirkte es, als ob sich Springsteen nach den ruhigeren Tagen seiner Anfangszeit zurücksehnte. Auch der zunehmende Reichtum schien ihn zu belasten. 1988, vier Jahre nach Born in the USA und kurz vor seinem 40. Geburtstag war auch Bruce Springsteen, wie sein ostdeutsches Publikum, reif für Veränderungen. Die Probleme zuhause sollten nur ein paar Monate später in einer Scheidung enden. Die recht öffentliche Zeit der auseinanderbrechenden Ehe markierte eine der wenigen Abschnitte in der Karriere des Superstars, in denen Paparazzi-Fotos und Gerüchteküche-Geschichten über ihn in Klatsch-Magazinen erschienen. Und über das Verhältnis zwischen Springsteen und seiner Begleitchor-Sängerin Patti Scialfa erregten sich in diesem Sommer nicht nur Medien, sondern auch die Fans. Bis dahin war bemerkenswert wenig über das Privatleben Springsteens bekannt. Das lag daran, dass er Wert auf Privatsphäre legte, aber es gab einfach auch nicht viel Aufregendes zu berichten. Anders als anderen Musikern ist Springsteen seine Karriere nicht zu Kopf gestiegen und er schaffte es, ein einigermaßen normales und skandalfreies Leben zu führen, ohne Drogen und ohne Alkohol. Und er tat alles dafür, dass ihm sein wachsender Ruhm nicht zu Kopf stieg. Springsteen schirmte auch sein Privatleben ab und gab nur wenige Interviews. Sollten doch die Songs sprechen, die er auf der Bühne für alle sang.
Auch in anderen Bereichen unterschied sich Springsteen von vielen Kollegen. Zwar war er keine Leuchte in der Schule und verließ das Ocean County Community College in New Jersey ohne Abschluss. Sehr wohl aber schrieb er schon als Schüler Gedichte, verschlang Literatur und hatte ein unstillbares Bedürfnis, zu lernen. In den zwei Jahrzehnten nach seinem abrupten College-Abgang reifte Springsteen zu einem gebildeten, belesenen, weitgereisten und kenntnisreichen Mann, der auch in vielen Spezialbereichen profunde Kenntnisse besaß, besonders in Sozialgeschichte.
„Ich war nie gut in der Schule und sie sagen dir immer, wenn du nicht schlau bist in der Schule, bist du dumm“, sagte er einmal bei einem Konzert in Tempe, Arizona, 1980 – in der Nacht, nachdem Ronald Reagans zum amerikanischen Präsidenten gewählt worden war. „Aber ich hatte nie das Gefühl, etwas zu lernen, oder wenigstens etwas zu lernen, was mir wichtig war, bis ich anfing Radio zu hören, in den frühen 60ern.“ Er habe durch die Musik viel mehr gelernt als in der Schule, sagte er. „Sie haben immer auf deinen Kopf eingeredet, aber sie haben es nie herausgefunden, wie sie zu deinem Herzen sprechen können.“ Kurz darauf im selben Konzert in Tempe gab Springsteen sein erstes politisches Statement auf der Bühne ab. Er sagte, die Wahl von Reagan sei „erschreckend“.
Springsteen äußerte sich damals – und auch noch zu Zeiten des Ostberliner Konzerts – weniger zu unmittelbar politischen Dingen als heute. Doch an seiner politischen Verortung als Linker lässt schon der Inhalt seiner Songs keinen Zweifel. Auf der ganzen Welt wird er als Anwalt des „Kleinen Mannes“, der um ihre Hoffnungen betrogenen Arbeiterklasse und derjenigen Menschen wahrgenommen, die in einer kapitalistischen Gesellschaft trotz harter Arbeit aus eigener Kraft nicht den Aufstieg schaffen. Wahrscheinlich war es genau dieses Image, das Springsteen auch bei den Oberen der DDR anhaftete, und das ihm half, seinen Traum zu verwirklichen und vor einem großen Publikum in Ostberlin auftreten zu können. Auch Menschenrechte sind Springsteen seit jeher ein Anliegen. So beteiligte er sich 1988, wenige Monate nach dem Weißensee-Konzert, an der bereits erwähnten Menschenrechts-Tournee von Amnesty International, die den 40. Jahrestag der Ausrufung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte feiern sollte. Von Springsteens intensiver Auseinandersetzung mit den Themen Flucht, Asyl und Ausgrenzung von Einwanderern und Flüchtlingen legt auch sein Album The Ghost of Tom Joad eindrucksvoll Zeugnis ab.
Born in the USA
In den späten 80er-Jahren bewegte Springsteen mit seiner Musik Menschen in aller Welt, in Metropolen oder Dörfern – von Tallahassee bis Tokio, von East Rutherford bis Ostberlin. Aber auch wenn er sich selbst weiter gern als der Junge aus einfachen Verhältnissen mit der Gitarre in der Hand und Arbeiterthemen im Kopf sah – er war längst in einer anderen Realität angekommen: Er war Multimillionär und reiste um den Globus.
Dabei blieb er ein Getriebener. Auch wenn er selten explizit politisch wurde, wollte er doch mehr, als nur Musik machen. Er arbeitete hart daran, seinen Songtexten Bedeutung und Tiefe zu geben. Jahre später reflektierte er 1996 in einem Interview mit dem Schwulen- und Lesbenmagazin The Advocate das Musikverständnis, das er in den 80er-Jahren hatte. „Ich war ein ernsthafter junger Mann … ich war überzeugt, dass man mit Rockmusik ernsthafte Dinge anstellen kann, sie hatte eine Macht, sie hatte eine Stimme. Ich glaube das verdammt noch mal noch immer.“
Auch auf Reisen war Springsteen ein eifriger Beobachter seiner Gastländer, stets erpicht, einen oder zwei Sätze der Landessprache zu lernen und allzeit bereit, die Kultur des jeweiligen Landes in sich aufzusaugen. Auch auf der Bühne streute er fast immer ein paar Bemerkungen in der Landessprache ein. Sein Credo hat er mehrfach ausgesprochen: Rockmusik relevant zu machen für die Leute, die sie hören, ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Einkommens, ihres Alters, ihrer Religion oder Nationalität. In dem Interview von 1998 mit Double Take sagt Springsteen: „Ich hatte immer ein paar hochfliegende Vorstellungen, um die Leute mit meiner Musik zum Nachdenken darüber zu bringen, was richtig und was falsch ist.“ In einem seiner seltenen, ausführlicheren TV-Interviews gab er 2002 im US-Sender ABC ebenfalls einen Einblick in seine Philosophie. „Ich wollte eine Arbeit abliefern, die relevant für die Menschen ist und Einfluss auf die Themen hat, die ich wichtig finde.“
Wie Springsteen in der Phase seines