Einen geliebten Menschen verlieren. Doris Wolf

Einen geliebten Menschen verlieren - Doris Wolf


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durch den Kopf gehen. Doch, wenn Sie sich dauernd damit beschäftigen, sollten Sie die Chance wahrnehmen, sich mit einer anderen Person darüber zu unterhalten, ob wirklich alles ausweglos ist. In den ersten Phasen der Trauer sind wir häufig so verwirrt in unseren Gedanken, dass wir unsere Lage als ausweglos ansehen, obwohl sie es gar nicht ist.

      •Wenn Sie aus Ihrem Schmerz herauskommen möchten, aber keinen Weg sehen, dorthin zu gelangen.

      •Wenn Sie nicht in der Lage sind, sich adäquat um sich selbst zu kümmern, beispielsweise sich überhaupt nicht gesund ernähren oder der Körperhygiene keinerlei Beachtung mehr schenken.

      •Wenn Sie länger als vier Wochen Beruhigungsmittel und Schlafmittel nehmen, zu viel Alkohol trinken, zu viel essen oder zuwenig essen.

      •Wenn Sie gerne Unterstützung bei der Trauerarbeit haben möchten, beispielsweise jemanden, dem Sie von Ihrem Schmerz erzählen können, ohne den Kommentar zu hören: „Du musst jetzt allmählich darüber hinwegkommen.”

      Bitte begleiten Sie mich noch ein Stück auf dem Weg zum Gipfel. All das, was Sie verspüren – Ihren Schmerz, Ihre Angst, Ihre Verzweiflung, Ihre unendliche Einsamkeit, die Sehnsucht, aber auch die Wut sind uns Menschen eigen. Wir werden mit der Fähigkeit geboren, um einen Verlust zu trauern. Wir werden aber auch geboren mit der Fähigkeit, einen Verlust anzunehmen und zu überwinden.

       Zwei Bäume im Park

      Zwei große Bäume stehen dicht beieinander in einem Park. Sie kennen sich schon seit frühester Jugend. Die Äste des einen Baumes ragen in die Krone des anderen. Beide haben sich gegenseitig hervorragend einander angepasst. Im Frühjahr entfalten sich zur gleichen Zeit die ersten Blätter. Da, wo die einen Äste sich weiter ausdehnen, hält sich der andere Baum zurück. Beide nehmen Rücksicht aufeinander. Im Herbst machen sich beide für den Winter bereit.

      Sie schützen sich gegenseitig vor starkem Wind. Der eine Baum gewährt dem anderen Schatten. Sie holen sich aus dem Boden ihr Wasser und teilen es sorgfältig. So haben sich beide gemeinsam entwickelt, sind alt geworden und haben schon viele Jahresringe gemeinsam aufgebaut.

      Eines Tages schlägt der Blitz in einen der Bäume ein und fällt diesen. Er wird wortlos von Waldarbeitern abtransportiert. Der andere Baum bleibt alleine zurück. Er kann einfach nicht glauben, dass sein geliebter, treuer Nachbar nicht mehr da sein soll. Wo sie sich doch für den nächsten Winter schon so viel vorgenommen hatten. Er wünscht, einfach nur einen bösen Traum geträumt zu haben, und morgen nach dem Aufwachen sei alles wieder in Ordnung. Doch am nächsten Morgen ist er immer noch allein. Er schaut suchend umher, doch er kann seinen Nachbarn nirgendwo entdecken. Er fühlt sich nackt und hilflos. Jetzt erst wird ihm bewusst, dass er all die Jahre vom anderen Baum Schutz geboten bekommen hatte. Er bemerkt, dass er auf der Seite, die dem anderen Baum zugewandt war, schwächer entwickelt ist. Die Äste sind kürzer und weniger dicht mit Blättern übersät. Ja, er muss sogar aufpassen, sich nicht nach der anderen Seite zu neigen und umzufallen. Der Wind fährt ihm garstig in die schwache Seite.

      Wie schön wäre es doch, wenn sein Nachbar noch da wäre. Er beginnt zu hadern, warum der Blitz ausgerechnet in seinen Nachbarn einschlagen musste. Es gibt doch noch mehr Bäume im Park. Er hat Angst vor dem langen, harten Winter, den er jetzt alleine durchstehen muss. Er seufzt, fühlt sich sehr einsam.

      Warum konnte der Blitz denn nicht sie beide treffen? Nie mehr würde er so einen Nachbarn finden, mit dem er alles teilen könnte. Nie mehr könnten er und sein Nachbar über gemeinsame schöne Stunden sprechen, die sie beide erlebt hatten. Hätte er am Ende seine Äste weiter zu seinem Nachbarn hinstrecken sollen, dass der Blitz auch ihn hätte treffen können? So quält er sich mit Schuldgefühlen, Ängsten und Verzweiflung. Die Sonne scheint wie immer und sendet ihre wärmenden Strahlen, doch er verspürt sie nicht. Es wird Winter und er verbringt die Zeit alleine. Er überlegt, ob dies wohl der Sinn des Lebens sei.

      Eines Nachts, als er wieder einmal grübelte, kam ihm die Idee, dass er sich im nächsten Frühjahr sehr anstrengen könnte, besonders die Äste seiner schwachen Seite wachsen zu lassen. Er könnte versuchen, die leeren Stellen, die der Nachbar mit seinen Ästen ausgefüllt hatte, zu füllen. Er hatte ja jetzt mehr Platz, sich auszubreiten. Er musste keine Rücksicht mehr nehmen und hatte Nahrung für zwei.

      So begann er, all seine Energien darauf zu verwenden, die Lücke, die sein Nachbar hinterlassen hatte, allmählich auszufüllen. Ganz vorsichtig ließ er neue Äste wachsen. Es dauerte, aber er hatte ja Zeit. Und manches Mal war er sogar ein kleines Bißchen stolz darauf, alleine gegen die Kälte und die Winde anzukämpfen. Er wusste, dass es nie mehr so sein würde wie früher – aber wenn der Nachbar jetzt noch einmal kommen würde oder gar ein neuer Nachbar, hätte er nicht mehr so viel Platz zur Verfügung wie früher. Eines wusste er genau. Er würde den alten Nachbarn nie vergessen, denn er hatte ja die ersten fünfzig Jahresringe mit ihm gemeinsam verbracht. Zu jedem Jahresring konnte er gemeinsam erlebte Geschichten erzählen. Zu den letzten drei Jahresringen hatte er zu erzählen, wie er gelernt hat, allein zu leben, seinen Ästen eine neue Richtung zu geben und seinen Platz im Park neu zu gestalten.

      3Wie Kinder trauern

      Kinder trauern anders als Erwachsene. Wie Kinder mit dem Tod umgehen, ist abhängig von deren Alter. Kinder empfinden den Tod auch als schmerzhaft, aber ihnen fehlt, abhängig vom Alter, der Begriff von Zeit und Endgültigkeit. Außerdem haben sie bis zu einem bestimmten Alter noch magische Vorstellungen vom Tod.

      Als mein Vater starb, war ich gerade zehn Jahre alt. Mein Vater hatte eine lange Leidenszeit hinter sich und ich hatte irgendwie gespürt, dass er sterben würde. In der Zeit vor seinem Tode weinte ich häufig in der Schule. Als mich einmal eine Lehrerin darauf ansprach, sagte ich ihr, mein Vater liege im Sterben. Nach seinem Tod machte ich mir über ein Jahr lang Schuldgefühle, weil ich dachte, er wäre gestorben, weil ich das in der Schule erzählt hätte. Ich entwickelte für mich ein Ritual, das ich jeden Abend im Bett durchführte, um meinen „Fehler“ wiedergutzumachen. Ich erlebte meine Mutter als sehr verzweifelt und hilflos, sodass ich ihr nichts davon erzählte. Nach dem Tod meines Vaters schlief ich jahrelang im Ehebett neben meiner Mutter. Fast jede Nacht wachte ich mit der Angst auf, sie könnte auch sterben. Ich lauschte so lange, bis ich ihren Atem vernahm, dann konnte ich erst wieder einschlafen. Bis zu meinem Studium kämpfte ich bei jedem Abschied von einem Menschen, und sei es auch nur für einen längeren Urlaub, mit den Tränen und fühlte mich verlassen. Auf der einen Seite hasste ich es, wenn meine Mutter immer wieder weinte und an den Vater erinnerte, auf der anderen Seite war ich selbst auch sehr traurig. Ich kämpfte gegen meine Gefühle und die meiner Mutter an. Ich wollte sie nicht traurig sehen und auch wieder Spaß im Leben haben. Manchmal gab ich dem Vater die Schuld, dass die Mutter so traurig war.

      Ich habe an mir erlebt, dass ich mich bis weit in mein Erwachsenenleben hinein immer wieder schmerzlich mit dem Tod meines Vaters auseinandersetzen musste. Auch heute gibt es noch viele Augenblicke, in denen ich an ihn denke oder traurig bin, dass er nicht an meinem Leben teilhaben kann. Doch meine Gefühle ihm gegenüber haben sich verändert. Ich kann heute liebevoll an ihn denken, ohne zu weinen, aber auch mein Leben gestalten, ohne immer an ihn zu denken.

      Der Verlust eines Elternteiles in der Kindheit muss in jedem Lebensabschnitt während des Heranwachsens erneut betrauert werden. Wenn Kinder nicht angemessen um den Verlust eines Familienmitgliedes trauern, kann es im späteren Leben zu Störungen wie Angst vor enger Bindung, vor einer Schwangerschaft, vor Depressionen kommen.

       Der Verlust eines Elternteils

      Die folgenden Angaben sollen lediglich als grobe Orientierungshilfe dienen. Wenn Sie Ihren Partner und Ihre Kinder ein Elternteil verloren haben, müssen Sie Ihre Kinder beobachten und selbst merken, was sie im jeweiligen Alter verstehen und was nicht.

       Kinder im Alter von 2 bis 3 Monaten

      Wenn Kinder in diesem Alter ihre Mutter verlieren und ihre Bedürfnisse


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