Ganz klar Tanja. Dana Wolf
“Sie mir?”
Tanja sah ihn zum ersten Mal verlegen. Er bemühte sich, schlagfertig zu sein, es wollte ihm allerdings nicht gelingen.
“Nichts … also, ich meine ……”, stotterte er, fand aber umgehend zu seiner Rolle zurück.
“Jetzt seien Sie doch nicht so empfindlich! Was kann ich dafür, dass Ihre Nerven nicht die besten sind?”
“Das fragen Sie jetzt aber nicht im Ernst!”
Tanja war den Tränen nahe. Doch Tom blieb Tom, wie sie ihn kennengelernt hatte.
“Wissen Sie, was ich mich frage? Ich frage mich, wie frustriert man sein muss, um bei dem kleinsten blöden Spruch so dünnhäutig zu reagieren! Vielleicht hatte ich ja recht mit meiner Vermutung: Ihr Mann hat Sie mit ´nem kleinen Hosenscheißer allein gelassen … Verstehen könnt ich’s!”
Tanja schluckte.
“Was wissen Sie schon von meinem Leben? Was geht es Sie überhaupt an?”
Ihre Fragen beantwortete sie selbst: “Genau, nichts und nochmal nichts! Also halten Sie sich endlich aus meinen Angelegenheiten raus! Gehen Sie doch einfach ins Kino, wenn Ihnen langweilig ist und Sie kein eigenes Leben haben!”
Ihre Worten verfehlten ihre Wirkung nicht. Noch bevor Tom etwas erwidern konnte, schwang sie sich aufs Rad und trat in die Pedale, der Sonne entgegen. Zu ihrer Rechten die Weinberge der Obermosel, zu ihrer Linken das luxemburgische Flussufer. Die nächste Ortschaft: Wellen. Tanja gab Gas, sie stellte sich vor, das Ortsschild sei die Ziellinie. Ihr Herz raste, ihre Hände umklammerten den Lenker, ihr Blick ging starr geradeaus. Völlig erschöpft ließ sie den Freilauf surren, kaum hatte sie den Ort erreicht. Vor einer Bäckerei stellte sie das Rad ab und ließ sich in einen Rattansessel fallen. Sie war am Ende ihrer Kräfte, aber glücklich. Die letzten Kilometer hatten Toms Sticheleien vergessen lassen. Tanja blickte auf den Fluss, der friedlich dahinschlängelte. Ein warmer Wind streichelte ihre Haut und ließ den Schweiß trocknen. Blätter raschelten leise im Wind, Sonnenreflexe tanzten auf der Wasseroberfläche. Ein perfekter Moment, dachte Tanja. Der erste seit ihrer Ankunft ….
*
Tanja ging in ihrem seidenen Morgenmantel hinüber zum Fenster und ließ frische Luft ins Zimmer. Sie fühlte sich gut, abgesehen vom Muskelkater in den Beinen und den leichten Verspannungen im Rücken und im Nacken. Am liebsten wäre sie gleich wieder aufs Rad gestiegen, doch ihr Therapieplan sah etwas anderes vor: Die verschobene Fangotherapie, dann - am Nachmittag - Aerial Yoga.
An Tag drei ihres Aufenthalts begann sich schon so etwas wie Routine einzustellen. Ihre Tasche lag fertig gepackt neben der Garderobe. Tanja beeilte sich im Bad, um noch rechtzeitig zum Frühstück zu kommen. Ihr Appetit war immerhin schon zurückgekehrt. Vielleicht lag es aber auch nur an der gestrigen ungewohnten Anstrengung. Auf dem Weg zum Frühstücksraum passierte sie das Entree. Dort saß Peter in einem Ledersessel und war in die Lektüre einer Zeitschrift vertieft. Tanja hatte weder Zeit noch Lust auf ein Gespräch und hoffte, er würde sie nicht bemerken. Doch zu spät. Er hatte sie bereits auf dem Radar.
“Hallo, Tanja”, grüßte er, “guten Morgen!”
Sie wollte nicht unhöflich sein.
“Hallo, Peter! Wie geht’s Ihnen heute? Haben Sie die Radtour gut überstanden?”
“Ich schon”, erwiderte er, “aber wo sind Sie denn abgeblieben?”
“Ich …”, haspelte sie, “ich wollte einfach einen Moment allein sein …”
“Verstehe. Radfahren als Meditation.”
Er zwinkerte ihr zu.
“So ähnlich. Jedenfalls fand ich die Zusammensetzung der Gruppe eher … suboptimal.”
“Na, ich hoffe doch, es lag nicht an mir. Obwohl, verstehen könnte ich’s schon. Uns trennen ja nicht nur einige Jahre, sondern mindestens ebenso viele Kilo.”
Er lächelte.
“Keine Sorge, Peter”, beschwichtigte sie, “an Ihnen lag es bestimmt nicht.”
“Dann lassen Sie mich raten. Das Suboptimum fährt einen Sportwagen, trägt Sechs-Tage-Bart und hört auf den Namen Tom, richtig?”
“Richtig.”
Kurze Pause. Er musterte sie von oben bis unten.
“Wenn ich mir Sie beide so vorstelle … Sie passen wirklich nicht zusammen. Eine junge, moderne und attraktive Frau - und dann dieser …” - er suchte nach dem richtigen Wort - “… dieser Parvenu, der locker Ihr Vater sein könnte!”
Kurze Gesprächspause. Tanja fühlte sich trotz seiner Schmeicheleien unwohl - oder vielleicht gerade wegen seiner Schmeicheleien. Oder gab es etwa noch einen anderen Grund für ihr Unbehagen? Wenn sie tief in sich hineinhorchte, merkte sie, dass sie Peters Versuch, Tom vor ihr schlecht zu machen, einigermaßen ärgerte. Augenblicklich erschrak sie über dieses unbewusste Eingeständnis. Noch bevor sich ihre Gefühle in Widersprüche verstricken konnten, riss Peter sie aus ihren Grübeleien.
“Hab ich etwas Falsches gesagt?”, fragte er naiv. Tanja widerstand dem Impuls, seinen Ausführungen zu widersprechen. Peter setzte noch eins drauf: “Abgesehen vom Alter, Sie und dieser Tom, das passt einfach nicht!”
Tanjas Widerspruchsgeist war geweckt.
“So? Und wieso nicht?”
“Ist doch klar”, erklärte Peter, “Sie beide leben in ganz verschiedenen Welten.”
Seine Küchenphilosophie begann, ihr auf die Nerven zu gehen.
“Erstens”, konterte sie, “woher wollen Sie das wissen? Und zweitens, selbst wenn, schon mal was von Romeo und Julia gehört? Tristan und Isolde? Tony und Maria, Harold und Maude?”
Noch bevor sie merkte, dass sie sich um Kopf und Kragen redete und drauf und dran war, ihr nicht vorhandenes Interesse an Tom zu rechtfertigen, korrigierte sie sich. Schließlich musste sie auch weiter zur Fangotherapie.
“Und außerdem: Ganz abgesehen davon, dass ich schon einen Freund habe, bin ich bestimmt nicht hier, weil ich Anschluss suche … Aber warum erzähl ich Ihnen das eigentlich alles?”
Sie sah nach der Uhrzeit. Just in dem Moment erreichte sie ein Anruf. Eine unbekannte Nummer.
“Tanja Bernhardt”, meldete sie sich.
Es folgte: “Aha, gut … Okay, verstehe … Bis gleich.”
Die Autowerkstatt war dran. Der Typ von Willy’s Autohof hatte ihren Wagen repariert. Sie müsse ihn allerdings heute noch abholen.
Tanja checkte ihren Behandlungsplan und musste feststellen, dass sie es in der Mittagspause kaum schaffen würde. Dann lieber Fango ausfallen lassen, sagte sie sich. Denn Yoga wollte sie auf gar keinen Fall verpassen.
Sie verabschiedete sich kurz von Peter und ging Richtung Haupteingang. Am Empfang deponierte sie ihre Tasche. Gerade als sie sich umdrehte, um vor dem Gebäude nach einem Taxi Ausschau zu halten, stieß sie erneut mit Tom zusammen. Diesmal hatte er wenigstens keinen Kaffeebecher in der Hand. Stattdessen glotzte er auf sein Handy-Display.
“Ups!”, machte er, als er ihren Ellbogen in seinen Rippen spürte. Einigermaßen groß war sein Erstaunen.
“Glauben Sie an Zufälle?”, fragte er. “Falls nicht, dann hätte Gott auf jeden Fall einen sehr schlechten Humor.”
“Oder er hätte zu viele Schmonzetten geguckt”, entgegnete Tanja gereizt. “Ich hab’s jedenfalls eilig. Wenn Sie mich also freundlicherweise vorbei lassen würden …”
Sie standen sich noch immer nur wenige Zentimeter voneinander entfernt gegenüber. Dieser Moment schien sie beide gleichermaßen zu lähmen.
“Aber natürlich”, sagte Tom schließlich. “Wo müssen Sie denn hin?”
Tanja war nicht darauf