Troubled Waters. H.J. Welch
nur als Faulheit verurteilten? Sie waren der Grund, warum Emery lieber seine Freunde besuchte und nie jemanden mit in seine Wohnung brachte, auch die Männer nicht, mit denen er sich einließ. Wenn es irgendwo saubere öffentliche Toiletten gab, war ihm das lieber, als einem Mann zuzumuten, sich den Weg durch schmutzige Socken und Federboas bahnen zu müssen.
Sonics Käfig war die einzige Ausnahme. Den hielt Emery immer makellos sauber. Die Wohnung kam ihm ohne den kleinen Igel so leer vor. Er hoffte, dass Sonic sich bei seiner Tante Ava wohlfühlte und dass der neue Käfig schon geliefert worden war.
Emery war in der Nacht schreiend und schweißgebadet aufgewacht. Er hatte geträumt, er wäre nicht rechtzeitig zurückgekommen, um Sonic zu retten. Duffy, der im Nebenzimmer schlief, kam sofort angerannt, als er Emery schreien hörte. Er hatte an die Tür getrommelt und gefragt, ob alles in Ordnung wäre. Nachdem sich Emerys rasendes Herz wieder etwas beruhigt hatte, musste er sich eingestehen, dass er das verdammt sexy fand.
Er biss sich auf die Lippen und führte Duffy in die Küche, damit er sich dort ums Geschirr kümmern konnte. Es war eine einfache Aufgabe und Emery musste ihm nicht erst erklären, wo was aufbewahrt wurde. Duffy musste nur das Geschirr abspülen und in die Spülmaschine stellen. Emery wollte das Pulver abwischen, mit dem die Spurensicherung die halbe Wohnung eingepudert hatte.
Er hatte damit gerechnet, sich in Duffys Gegenwart unbeholfen und wertlos zu fühlen. Die meisten Menschen konnten nicht verstehen, warum ihm seine Arbeit so wichtig war. Sie sahen in ihm nur ein Möchtegern-Model, das dafür bezahlt wurde, Urlaub zu machen. Aber so war das nicht. Emery hatte nur meistens nicht die Kraft, um diese Fehleinschätzung richtigzustellen und den Menschen zu erklären, worum es bei seiner Arbeit wirklich ging. Schon gar nicht bei weißen, heterosexuellen Männern.
Doch obwohl ihm Duffy höllisch auf die Nerven fiel, weil er aus jeder Mücke einen Elefanten machte, hatte sich Emery in seiner Gegenwart nie wie ein Versager gefühlt. Sie waren so unterschiedlich, dass sie nie etwas gemeinsam haben würden, doch Duffy hatte ihm nie das Gefühl gegeben, als müsste er Verständnis für diese Arschlöcher haben, die ihn ständig zu lynchen drohten oder ihm Aids anhängen wollten.
Lag das nur an Duffys Professionalität? Wahrscheinlich musste er in seinem Job zu jedem Auftraggeber höflich sein. Emery hasste solche Menschen und wollte nicht, dass Duffy ihm etwas vorspielte. Sosehr er sich auch wünschte, dass der Mann, mit dem er unerwartet so viel Zeit verbringen musste, ihn vielleicht nett fand. Ehrlichkeit war ihm lieber. Wenn Duffy sich insgeheim durch Emery und das, wofür er stand, beleidigt fühlte, wollte er das wissen.
»So«, sagte er und riss eine Packung Desinfektionstücher auf, um die Küchentür abzuwischen.
Duffy sah ihn über die Schulter an. Er hatte seinen Anzug gegen bequeme Jeans und einen Hoodie ausgetauscht, an dem er tatsächlich die Ärmel hochgerollt hatte, um das Geschirr zu spülen. Hm. Und er war tätowiert. Emery versuchte sich einzureden, dass Tattoos nicht attraktiv wären, aber das war gelogen. Die Farben glänzten auf Duffys Haut und erweckten die Tiere und Fabelwesen zum Leben.
Was hatte er eben noch sagen wollen? Oh, richtig. Er wollte mehr über Scouts Hintergrund herausfinden.
»Bin ich die erste Queen, mit der du dich rumärgern musst? Das war bestimmt ein Schock.« Er ließ die Hand provokativ über den Türrahmen gleiten, als wäre es ein Stripper-Pole oder – noch besser – ein riesiger Schwanz.
Duffy zog unbeeindruckt eine Augenbraue hoch und drehte sich wieder zum Spülbecken um. »Nein.«
»Nein?«, wiederholte Emery, doch Duffy ging nicht näher darauf ein. War Emery nicht sein erster schwuler Klient oder wollte Duffy ihm damit sagen, dass er nicht über andere Klienten mit ihm reden wollte? Er versuchte es mit einem anderen Ansatz. »Weißt du, womit ich mein Geld verdiene? Warum dieser Kerl und die anderen hinter mir her sind?«
Duffy nickte, drehte sich aber nicht zu ihm um. Er konzentrierte sich ganz darauf, die Teller abzuspülen. »Du hast einen YouTube-Kanal und produzierst seit einigen Jahren Videos. Dein Markenzeichen ist aber der Instagram-Account. Du hast angefangen, LGBT-Kommentare mit betrunkenen Synchrontexten zu überblenden und erscheinst seitdem in offiziellen Musikvideos und Realityshows im Fernsehen. Deine größte Leistung ist eine Stiftung, die Over The Rainbow Foundation, die schon Tausende von Dollars für LGBT-Jugendliche gesammelt hat. Sie unterstützt vor allem Bildungsprojekte, Heime für obdachlose Jugendliche und Rechtshilfeorganisationen.«
Emery hatte mittlerweile mit dem Putzen aufgehört und starrte Duffy mit offenem Mund an.
Okay, in Ordnung. Er hatte sich also den Lebenslauf seines Klienten eingeprägt. So beeindruckend war das auch wieder nicht. Und nur, weil man ihm nicht anhörte, dass er bei seinem Vortrag mit den Augen rollte, musste das noch lange nicht stimmen. Schließlich konnte Emery sein Gesicht nicht sehen.
»Äh, ja«, sagte er und versuchte, sich wieder zusammenzureißen. »Das bin ich.«
Duffy nickte. »Deine Arbeit ist wichtig und gut. Mein Alter und ich haben uns nie sehr gut verstanden, aber er hat mir beigebracht, einen Mann zu schätzen, der etwas aus sich macht. Du hast deine ersten Videos mit deinem Handy im Schlafzimmer gedreht. Jetzt gibst du gefährdeten Jugendlichen ein Dach überm Kopf und finanzierst ihre Ausbildung.«
Emery biss sich auf die Lippen. Er hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Nein, nein, nein. Er brauchte keine Zustimmung – von niemandem. Schon gar nicht von einem Mann wie Duffy. Duffys Meinung sollte für ihn sowieso keine Rolle spielen. Emerys emotionale Reaktion war nicht mehr als die Erleichterung darüber, dass er nicht schon wieder niedergemacht wurde. Das war alles.
»Ja, gut. Die meisten Leute denken, ich mache nur Tamtam und eine Unmenge an Drama und die Welt wäre ein besserer Ort, wenn es mich nicht gäbe.«
Duffy zog eine Augenbraue hoch und sah ihn über die Schulter an. Emery putzte schnell weiter. »Diese paar Idioten sind nicht die meisten Leute. Vergiss sie. Auf jedes von diesen Arschlöchern kommen Hunderte von Kindern und Jugendlichen, denen du geholfen hast. Selbst wenn sie nur deine Videos ansehen und wissen, dass sie nicht allein sind.«
Dem konnte Emery nicht widersprechen. »Ja«, sagte er abwesend. »Ich wette, du hattest als Jugendlicher mehr Vorbilder. Ich hatte niemanden. Null.«
Duffy schnaubte und stellte mit einem lauten Knall einen Teller in die Spülmaschine. Oh, das hatte ihm nicht gefallen. Emery kniff die Augen zusammen. Vielleicht hörte er nicht gerne, dass er mit einem Privileg auf die Welt gekommen war? Wie viele heterosexuelle, weiße und attraktive Mittelklassemänner hatte Emery schon erlebt, die ihm mit knirschenden Zähnen vorgeworfen hatten, dass er von ihnen eine Entschuldigung verlangte für etwas, wofür sie nicht verantwortlich wären? Dass sie sich alles verdient hätten, was sie erreicht hatten?
Emery würde nie jemandem vorwerfen, dass er nicht hart gearbeitet hätte, um im Leben etwas zu erreichen. Aber es machte ihn wütend, wie viele von ihnen einfach ignorierten, dass es auch Menschen gab, die weniger glücklich waren. Menschen, die Widerstände überwinden mussten, die sich die Mehrheit dieser Privilegierten im Traum nicht vorstellen konnte.
Und genau deshalb hatte er seine Internet-Karriere als Influencer eingeschlagen. Er hatte vor etlichen Jahren niemanden gefunden, der für ihn sprach und Geschichten aus einem Leben erzählte, mit dem Emery sich identifizieren konnte. Er hatte sich gewünscht, einmal – nur einmal – den Fernseher einschalten oder ins Internet gehen und sagen zu können: Oh mein Gott, ja… Das bin ich.
Sollte dieser verdammte ekleinhater doch seine Morddrohungen schicken. Sollten er und die anderen Trolle seine Posts doch mit ihren gehässigen Kommentaren überschwemmen. Sollten sie sich doch gegenseitig einreden, dass Emery das Schlimmste war, was sie jemals erlebt hatten.
Emery würde nicht aufhören. Niemals.
Weil Duffy recht hatte. Diese Kommentare hatten nichts zu bedeuten. Natürlich wusste Duffy nichts von dem Schuhkarton unter Emerys Bett, in dem die Ausdrucke von E-Mails, persönlichen Nachrichten und sogar einige echte Briefe lagen, die er von Jugendlichen bekommen hatte und in denen sie sich bei ihm bedankten. Weil er ihnen das Leben gerettet hätte. Weil er ihnen Kraft gegeben hätte,