Troubled Waters. H.J. Welch

Troubled Waters - H.J. Welch


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      Emery lehnte sich an die Wand im zweiten Stock und drückte das Handy an die Brust. Er hatte während der Fahrt in dem Taxi seine Mailbox durchgesehen und überlegt, auf welche Nachrichten er nach dem vielen Wodka noch reagieren konnte. Jetzt wollte er nur einen Moment Pause machen und in der Erinnerung an diesen Abend schwelgen. Er berührte seine Lippen mit den Fingern und versuchte, das Gefühl an den Kuss des Barbaren wieder wachzurufen, der leicht nach Bier geschmeckt hatte.

      Im Laufe der Jahre war er recht gut darin geworden, sich nicht mit den Details seiner Liebschaften zu belasten oder sich gar wieder daran zu erinnern. Er hatte sowieso ein schlechtes Gedächtnis für Gesichter. Beruflich war das eher ein Nachteil und er hatte hart daran gearbeitet, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Bei seinen vielen Affären kam es ihm allerdings zugute und das Bild des Barbaren vermischte sich jetzt schon mit den vielen Gesichtern seiner Vorgänger. Es war besser so.

      Emery hatte allerdings das Gefühl, es würde ihm schwerer fallen, die Erinnerung an die starken Hände des Mannes abzuschütteln, die ihn gepackt und an sich gezogen hatten. Oder die Erinnerung an die Zähne und die Lippen, die ihn geküsst und an ihm geknabbert hatten. Oder an den amüsierten Tonfall dieser Stimme, als sie sich geneckt hatten.

      Emery liebte Neckereien.

      Nun, es war sinnlos, sich länger damit aufzuhalten. Es war spektakulär gewesen, aber jetzt war es vorbei. Niemand hinderte Emery daran, das Erlebnis in seiner Schatztruhe zu speichern, doch jetzt brauchte er Schlaf. Er hatte seit fünf Uhr früh gearbeitet und es war schon nach Mitternacht. Die Müdigkeit kroch ihm in die Knochen und er sehnte sich nach seinem Bett.

      Emery steckte das Handy in die enge Tasche seiner Shorts und hielt den Transponder an das Paneel an der Wand. Nach dem Piepsen fischte er seinen Wohnungsschlüssel aus der Tasche.

      Als er im vierten Stock um die Ecke kam, stellte er fest, dass er den Schlüssel nicht gebraucht hätte.

      Seine Wohnungstür stand offen.

      Furcht machte sich in seiner Brust breit und er stolperte zurück zur Treppe. Verdammt, was war da los?

      Vorsichtig schaute er um die Ecke in den Flur. Mehrere Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Er überlegte, ob seine beste Freundin Ava davon gesprochen hatte, heute bei ihm übernachten zu wollen. Aber nein, daran er hätte er sich erinnert, auch wenn er müde und beschwipst war. Er wusste auch, dass er niemals die Tür offen gelassen hätte. Er kontrollierte mindestens zweimal, ob die Tür auch wirklich abgeschlossen war, bevor er das Haus verließ. Manchmal kontrollierte er sogar dreimal. Seine Putzfrau hatte einen Schlüssel, kam aber nur donnerstags und außerdem nie nachts. Emery war so panisch, dass er kaum noch klar denken konnte.

      Weil die einzige logische Schlussfolgerung war, dass sich jemand in seiner Wohnung aufhielt, der dort nichts zu suchen hatte.

      »Mist«, zischte Emery und Tränen stiegen ihm in die Augen – teilweise aus Wut, teilweise aber auch aus Angst.

      Oh Gott. Das konnte doch nichts mit diesen merkwürdigen Nachrichten zu tun haben, oder?

      Emery war eine Internetpersönlichkeit – keine berühmte, aber immerhin – und wurde oft belästigt. Besonders deshalb, weil er sich aktiv für Schwulenrechte einsetzte. Er war in den letzten Jahren schon oft mit Hass konfrontiert worden und in letzter Zeit wurde er mit anonymen Mails bombardiert, die ihrem Ton und der Wortwahl nach vermutlich alle von derselben Person stammten. Sie hatten alle die gleiche Botschaft.

      Du hast uns genommen, was uns gehört. Wir werden es uns zurückholen.

      Homos wie du sind Aids-verseuchter Schmutz! Du hast das nicht verdient, du Dieb!

      Wir wissen, wo du wohnst. Die Welt kann auf dich verzichten.

      Emery musste nicht beim FBI sein, um zu wissen, dass dieser Stalker ein ernst zu nehmendes Problem hatte.

      Er hätte allerdings nie gedacht, dass es so weit kommen würde. Dass jemand in sein Zuhause einbrechen würde. Was sollte er nur tun?

      Er sollte die Polizei benachrichtigen. Aber es würde eine Weile dauern, bis jemand kam. Bis dahin wäre der Eindringling vielleicht schon entkommen.

      Er sollte auch nicht hier warten, bis der Eindringling vielleicht zurückkam. Er sollte weglaufen und später überlegen, wie jemand durch die gesicherte Haustür und die Türen zu seinem Stockwerk und seiner Wohnung eindringen konnte. Später, wenn er in Sicherheit war.

      Andererseits war Emery stocksauer, weil dieses Arschloch in seiner Wohnung rumstöberte und mit seinen schmutzigen Händen alles anfasste, was ihm lieb und teuer war. Wer wusste schon, was der Kerl gerade jetzt – in diesem Moment – zerstörte oder einpackte? Emery drückte sich an die Wand und sein Herz fing an zu rasen. Er musste logisch denken. Alles war ersetzbar.

      Bis auf…

      »Nein!«, rief er und Tränen liefen ihm über die Wangen. »Nein, nein, nein!«

      Alles war ersetzbar – sein Laptop, seine Klamotten, die Schuhe und die vielen Andenken, die er von seinen Reisen mitgebracht hatte. Das alles waren nur materielle Dinge und wenn er sie verlor, war das nicht schlimm.

      Aber nicht Sonic.

      Ihm wurde schwindelig und er stützte sich an der Wand ab. Er könnte sich niemals verzeihen, wenn dieses Arschloch Sonic etwas antun würde. Er durfte Sonic nicht im Stich lassen. Und er durfte nicht das Risiko eingehen und warten, bis die Polizei eintraf. Manche Leute waren einfach krank im Kopf und ließen sich keine Chance entgehen, eine unschuldige Kreatur zu verletzen.

      Emery kannte viel zu viele solcher kranken Arschlöcher. Er musste Sonic retten.

      Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt und sein Herz schlug immer noch so schnell, dass er beinahe umkippte. Irgendwie schaffte er es, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich die Wand entlang bis zu seiner offenen Wohnungstür zu schleichen.

      Wer immer auch der Eindringling sein mochte, er verhielt sich mucksmäuschenstill. Als Emery zur Tür kam, blieb er kurz stehen und lauschte, hörte aber keinen Ton. Er schlich sich etwas näher, um durch den Spalt einen Blick in sein Wohnzimmer zu werfen. Nichts rührte sich.

      Jedenfalls nichts, was er nicht erwartet hätte.

      Emerys Blick blieb an dem großen Käfig haften. Ja, da war er, sein kleiner Igel. Er war putzmunter und schnüffelte sich durch die Sägespäne auf dem Boden seines Käfigs. Glücklicherweise hatte er sich nicht in einem der Rohre verkrochen oder spielte mit dem quietschenden Laufrad. Es sah nicht aus, als hätte der Eindringling ihn gestört oder belästigt.

      Für den Bruchteil einer Sekunde fragte sich Emery, ob der Kerl sich schon verzogen hatte, ohne die Tür zu schließen. Dann hörte er einen leisen Knall, der aus dem Schlafzimmer zu kommen schien. Sein Adrenalinspiegel schoss sofort wieder in die Höhe.

      Sein Schlafzimmer war ihm heilig. Bei dem Gedanken, dass jemand in sein Schlafzimmer eingedrungen sein könnte, fing sein Blut zu kochen an. Zwischen ihm und Sonic auf der einen und dem Eindringling auf der anderen Seite lag nur eine halb geschlossene Tür.

      Emery musste handeln. Sofort.

      Er drückte die Schultern durch und holte tief Luft. Es war kaum zu glauben, wie schnell er angesichts der drohenden Gefahr wieder nüchtern geworden war. Doch er musste jetzt seiner Verantwortung gerecht werden. Er musste sich und Sonic in Sicherheit bringen.

      Leise stieß er die Tür weiter auf und schlich über den Holzfußboden in das große Wohnzimmer. Es sah nicht aus, als hätte der Eindringling hier viel Schaden angerichtet. Nur einige Schubladen standen auf und ihr Inhalt lag auf dem Boden verstreut. Der Fernseher hing noch an der Wand, genauso wie die Bilder.

      Jetzt schien sich der Eindringling im Schlafzimmer aufzuhalten, wo er sich vermutlich an Emerys Safe zu schaffen machte. Vielleicht war er auch hinter Emerys Laptop her, um an private Informationen zu kommen. In diesem Fall konnte Emery ihm nur viel Glück wünschen.

      Andererseits hieß das aber auch, dass der Einbrecher jederzeit aus dem Schlafzimmer auftauchen


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