Troubled Waters. H.J. Welch
Baby«, flüsterte er so leise, dass es kaum zu hören war. Sein Blick huschte zwischen der Schlafzimmertür und dem Käfig hin und her, als er ihn öffnete. »Komm jetzt, mein Liebling. Zeit für ein kleines Abenteuer. Alles ist gut. Wir besuchen Tante Ava.«
Sonic schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Während Emery sich die Kochhandschuhe anzog, um seine Hände gegen die Stacheln des Igels zu schützen, zog Sonic sich in die hinterste Ecke des Käfigs zurück, wo er nur schwer zu erreichen war.
Emery hätte schreien können.
Stattdessen griff er vorsichtig in den Käfig und verdrehte seinen Arm, wie er es schon Hunderte Male getan hatte. Alles war bestens. Er konnte das. Er musste Sonic nur zu fassen bekommen, ohne ihn zu verletzen. Ihm war mittlerweile egal, ob seine Finger darunter leiden würden. Die Zeit wurde knapp und der Eindringling war immer noch im Schlafzimmer.
Was würde der Kerl tun, wenn er wieder ins Wohnzimmer zurückkam? Hätte Emery noch Zeit, um die Flucht zu ergreifen?
Und was war, wenn er eine Waffe hatte?
Emery wollte es nicht herausfinden müssen.
»Komm schon, mein Liebling. Komm jetzt. Komm.«
Die Sägespäne flogen in alle Richtungen, als Sonic den Handschuh sah und zitternd zu entkommen versuchte. Er konnte vermutlich Emerys Angst und Verzweiflung spüren und ließ sich davon anstecken. Sein Fluchtreflex war daher nur natürlich, machte Emery aber noch nervöser. Er schaute von seinem Baby zur Schlafzimmertür. War das ein anderes Geräusch, das er da gehört hatte? Vielleicht ein Bein, das im Dunkeln ans Bett stieß? Oder eine Hüfte, die mit einer offenen Schranktür kollidierte?
Er hatte schon viel zu viel Zeit verloren.
Emery drehte den Arm, um es aus einer anderen Richtung zu versuchen. Er griff zu und hatte die Hand voller Sägespäne und einem kleinen, vor Angst erstarrten Igel. Er hätte vor Erleichterung beinahe aufgeschrien, als er die Hand aus dem Käfig zog und sich Sonic an die Brust drückte.
In diesem Moment öffnete sich die Schlafzimmertür.
Emery dachte nicht lange nach. Seine Beine bewegten sich wie von selbst und er rannte zur Wohnungstür, die er weit offen gelassen hatte.
Wer immer aus dem Schlafzimmer kam, er brüllte laut. Es war ein furchteinflößender, animalischer Schrei, der vermutlich sämtliche Nachbarn aufweckte, die in diesem Stockwerk wohnten. Emery schaute nicht zurück. Er durfte keine Zeit mehr verlieren.
Er rannte nur weiter.
Tränen liefen ihm übers Gesicht, als er über den Teppichboden im Hausflur zur Treppe lief. Glücklicherweise musste er nicht erst den Transponder benutzen, um die Etagentür von innen zu öffnen. Er hatte Sonic in seinen Handschuh gewickelt und die Stacheln des Igels zerkratzten ihm durch das dünne T-Shirt die Brust. Mit der anderen Hand schlug er auf den Griff der Tür, um sie zu entriegeln. Obwohl es keine Sekunde dauerte, kam es ihm wie eine Ewigkeit vor, bis das Schloss endlich klickte. Er riss die Tür auf, um ins Treppenhaus zu laufen.
Er wusste nicht, was ihm von hinten an den Kopf schlug, aber es war schwer genug, um ihn nach vorne zu schleudern. Er knallte mit dem Kopf an den Türrahmen.
Verdammt, was war das? Es musste ein schwerer Gegenstand gewesen sein, keine Faust. Ein tröstlicher Gedanke blieb ihm, als sein Kopf vor Schmerz fast explodiert wäre – der Eindringling hatte mit einem Gegenstand nach ihm geworfen und war immer noch einige Meter hinter ihm. Noch hatte der Bastard ihn also nicht erwischt und Emery wollte dafür sorgen, dass es auch so blieb. Ein Adrenalinschub schoss ihm durch die Adern und seine ohnehin schon flatternden Nerven standen wie unter Hochspannung.
Lauf, lauf, lauf!, schrien sie ihm zu.
Und Emery lief.
Sonic an die Brust gedrückt, lief er die Treppe hinab. Schweiß oder Blut – er konnte nicht sagen, was es war – lief ihm über den Rücken. Er hielt sich an die Außenseite der Treppe, um nicht gesehen zu werden, falls jemand von oben durch den Schacht nach unten schaute. Dann hörte er, wie eine Tür zuschlug und polternde Schritte ihm folgten. Der Eindringling schrie laut – wortlos – und Emery konnte die Abscheu in seinem Schrei beinahe körperlich spüren.
Er war davon überzeugt, dass es persönliche Gründe für den Einbruch geben musste. Dieses Arschloch kannte ihn. Es war vermutlich eines der vielen anonymen Arschlöcher, die ihn seit Monaten oder Jahren belästigten. Konnte es dieser ekleinhater sein? Der Idiot glaubte offensichtlich, dass Emery irgendwie in seiner Schuld stünde. Er war so unverschämt selbstbewusst, dass er sogar damit geprahlt hatte, er wüsste, wo Emery wohnte.
Seine Beine fühlten sich wie Pudding an und sein Kopf pochte, als er an die Haustür kam. Er öffnete sie und rannte in die Nacht hinaus. Das Haus stand in einer relativ gut beleuchteten Straße, aber Pine Cove war keine Großstadt. So spät in der Nacht waren die Straßen menschenleer und Emery konnte sich nicht darauf verlassen, dass die paar Straßenlampen seinen Angreifer davon abhalten würden, über ihn herzufallen.
Emery blieb also nicht auf dem Bürgersteig, sondern lief in die kleine Seitengasse am Ende des Hauses, in der die Müllcontainer standen. Dabei scheuchte er zwei Katzen auf, die kreischend die Flucht ergriffen. Emery hoffte, sie würden ihn nicht verraten, hatte aber keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Er musste die Gasse verlassen haben, bevor sein Verfolger sie erreichte und sehen konnte, in welche Richtung er weiterlief.
»Weiter, weiter!«, keuchte er, als seine Knie nachzugeben drohten. Nicht mehr weit…
Er lief um die Ecke, japste erleichtert und blieb einen Moment stehen, um nach Luft zu schnappen.
»Du schaffst das! Lauf!«
Er hätte anschließend nicht sagen können, wie lange er gelaufen war. Als seine Beine nachgaben, blieb er stehen und lehnte sich mit dem Rücken an die Backsteinwand eines Hauses. Es war ein Laden für Angelzubehör, dunkel und schon lange geschlossen. Er hatte wenige Sekunden vorher über die Schulter nach hinten gesehen und festgestellt, dass er nicht mehr verfolgt wurde.
Sonic schaute zu ihm auf und rieb sich mit der Schnauze aufgeregt an dem Kochhandschuh. Emery grinste ihn an, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und streichelte Sonic zärtlich mit dem Finger über den Kopf.
»Wir haben es geschafft«, flüsterte er außer sich vor Freude. »Jetzt besuchen wir Tante Ava, ja? Sie wird sich um den kleinen Sonic und sein armes Herrchen kümmern, ja?«
Seine Hände zitterten immer noch heftig und es dauerte eine Weile, bis er das Telefon hervorgezogen und ein Taxi bestellt hatte. Sie hatten Glück und mussten nur zwei Minuten warten, weil ganz in der Nähe ein Wagen frei war. Sollte ihr Verfolger irgendwie herausgefunden haben, in welche Richtung sie gelaufen waren, so war er mittlerweile hoffentlich verschwunden.
Trotzdem kam Emery nicht zur Ruhe, bis er und Sonic endlich sicher in dem Mietwagen saßen und auf dem Weg zu Ava waren, die auf der anderen Seite der Stadt wohnte.
Erst jetzt holte Emery tief Luft und fragte sich, welcher dieser Online-Psychos sich nicht mehr mit Stalking zufriedengegeben, sondern die Grenze zur realen Körperverletzung überschritten haben mochte.
Kapitel 3
Scout
Scout hatte schon viel von Amerika gesehen. Große Städte und kleine, einige mit Charme oder Stil und andere, auf die er in Zukunft verzichten konnte. Er musste zugeben, dass vieles für Pine Cove sprach. Es gefiel ihm hier.
Für eine Kleinstadt war Pine Cove sehr stolz. Manche Städte wurden nie groß genug, um ihre eigene Identität zu entwickeln. Hier in Pine Cove fühlte sich Scout von allen freundlich willkommen geheißen. Die Aussicht auf den See, der am Ende der Hauptstraße lag, war atemberaubend schön. Die Läden auf beiden Seiten der Hauptstraße waren modern, als wollten die Menschen nicht in der Vergangenheit verharren, wie es in vielen anderen Kleinstädten der Fall war, die Scout kennengelernt hatte.
Andererseits hatte Pine Cove aber auch einen seltsam weltfernen Charme.