Gefahr für Burg Bentheim. Mathias Meyer-Langenhoff

Gefahr für Burg Bentheim - Mathias Meyer-Langenhoff


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Lotte nicht mit in den Batterieturm gegangen war. Dort befand sich der Folterkeller, das Einzige, woran die meisten wirklich Interesse hatten.

      Lotte wusste genau, dass es dort nicht halb so gruselig war wie in einem Kindergarten.

      *

      *

      Dietlinde

      In der Ecke der Katharinenkirche, direkt an der Außenmauer, klebte eine kleine Steinkanzel. Lotte stieg hinauf und setzte sich im Inneren auf den Boden. Jetzt konnte man sie vom Eingang der Kirche aus nicht sehen, sollten die anderen sie doch suchen. In ihrem Kopf arbeitete es, eine Gemeinheit nach der anderen ließ sie sich für ihren Lehrer einfallen, Teichmann würde sich noch wundern. Sie zog ihre Schuhe aus, schloss die Augen und spürte die angenehme Kühle der Steinplatten.

      Plötzlich kitzelte es an ihrem linken großen Zeh. War das eine Fliege? Sie zuckte mit dem Fuß.

      „Aufgepasst, oder willst du mich zertreten?“, hörte sie eine ärgerliche Stimme.

      „Spinn ich jetzt?“, schoss es Lotte durch den Kopf und laut sagte sie: „Seit wann können Fliegen sprechen?“

      „Ich bin keine Fliege!“

      Lotte beugte sich nach vorn und entdeckte eine kaum daumengroße Gestalt.

      „Schau nicht so ungläubig!“, herrschte die Kleine sie an. „Man nennt mich Dietlinde, und ich muss dich etwas sehr Wichtiges fragen.“ Sie war zwar klein, aber sehr energisch. Selbstbewusst und mit vor der Brust verschränkten Armen stand sie da und sah ihr Gegenüber herausfordernd an. Sie trug ein schmutzig braunes Baumwollkleid aus grobem Stoff. Das unförmige, fast sackartige Gewand hatte sie um die Hüften mit einem Strick zusammengebunden, daran hing ein kleiner Beutel. Auf ihrem Kopf wuchsen strähnige, rote Haare in alle Himmelsrichtungen.

      Lotte schloss ungläubig die Augen und zählte leise bis drei, aber als sie vorsichtig blinzelte, war das kleine Wesen noch immer da.

      „Du kannst deinen Sinnen ruhig trauen“, sagte Dietlinde, „mich gibt es wirklich. Und ich bitte dich inständig, spring jetzt nicht auf. Du bist so groß, wahrscheinlich weißt du gar nicht genau, wo du hintrittst, und dann bin ich nur noch Matsch!“

      Lotte war ausnahmsweise sprachlos.

      „Hör mir zu“, fuhr Dietlinde fort, „hast du dich wieder in der Gewalt, damit wir uns unterhalten können?“

      Lotte nickte, noch immer mühsam nach Worten suchend, schließlich stammelte sie: „Was, was … willst du von mir?“

      „Ich komme aus dem Mittelalter, als solche bezeichnet ihr doch unsere Zeit, oder? Ich bin hier, weil ich deine Hilfe benötige.“

      „Du nimmst mich auf den Arm“, meinte Lotte.

      „Wie sollte mir das gelingen? Du bist doch hier der Riese.“ Dietlinde wurde ungeduldig. „Entweder schenkst du mir Glauben, oder ich entschwinde wieder, aber ohne dich.“ Sie zögerte kurz. „Dann wäre Balthasar allerdings traurig.“

      „Wer ist denn das jetzt?“, fragte Lotte.

      „Du kennst Balthasar von Bentheim nicht? Was lernt ihr eigentlich in eurer Schule? Er ist einer der größten Lehrer unserer Zeit und hat mich zu dir gesandt. Was ist nun, begleitest du mich?“

      Lotte sah Dietlinde verständnislos an.

      „Bitte, folge mir, ich schwöre, dass du danach sofort wieder hierher zurückkehren kannst“, flehte die rothaarige Kleine jetzt. „Und bevor du fragst, dein Lehrer wird nichts bemerken, dafür habe ich gesorgt. Sobald eure Burgbesichtigung vorbei ist, bist du wieder bei deiner Klasse.“

      Jetzt horchte Lotte auf. „Wieso merkt der nichts? Und was ist mit Doro? Der wird doch bestimmt auffallen, wenn ich länger weg bin.“

      „Sicher nicht, du weißt doch selbst, dass sie mit Tom beschäftigt ist, und deinen kleinen Doktor habe ich mit einem Zeitzauber verhext.“

      „Du hast was?“ Lotte schüttelte ungläubig ihren Kopf.

      „Ich habe ihn verhext. Nun glaube bitte nicht, ich sei eine Hexe, das könnte für mich sehr gefährlich werden. Wie der Zauber genau wirkt, kann ich dir vielleicht später erklären, jetzt ist dafür keine Zeit. Wohlan denn, begleitest du mich?“

      Lotte zögerte mit der Antwort, sie glaubte immer noch zu träumen. Diese Kleine verlangte Unmögliches von ihr. „Du tauchst hier plötzlich auf, bist kaum größer als mein Daumen und quatschst von einer Reise in eine andere Zeit? Das kannst du deiner Oma erzählen. Bis jetzt hast du mir noch nicht mal gesagt, wohin und warum ich mitkommen soll.“

      „Ja, ja, du hast ja recht“, nickte Dietlinde, „all das muss in deinen Ohren sehr unwahrscheinlich klingen. Aber vertrau mir, ich will dir nichts Böses, mein Lehrer Balthasar wird dir alles erklären. Wir reisen nach Bentheim in das Jahr 1350 und auch wieder zurück, ich schwöre es dir.“

      Der raue Ton tat Lotte sofort leid, denn Dietlinde schien wirklich Angst zu haben, sie könnte nicht mitkommen. Sollte sie es riskieren oder nicht? Es war die verrückteste Einladung, die sie jemals bekommen hatte. Einerseits Grund genug abzulehnen, andererseits gefiel ihr die Kleine. Lotte zögerte noch, aber schließlich siegte ihre Neugier und sie willigte einfach ein.

      „Puh, bin ich froh“, seufzte Dietlinde, „dann befolge jetzt genau meine Anweisungen. Schließ deine Augen und streck deine linke Hand nach vorne! Nicht nach oben, nach vorne, in meiner Höhe!“

      Zögernd tat Lotte, was Dietlinde ihr sagte. Plötzlich spürte sie einen kleinen Stich an ihrem Zeigefinger. Sie zuckte kurz, dann begann sich alles in ihr zusammenzuziehen. Sie bebte und zitterte, es fühlte sich an wie ein starker Muskelkrampf beim Fußball, aber nicht nur in den Beinen, sondern am ganzen Körper. Als der Schmerz nachließ, sah sie sich um und erschrak. Dietlinde war plötzlich genauso groß wie sie.

      „Glotz mich nicht so an!“, kicherte Dietlinde. „So hast du Ähnlichkeit mit meinen Schafen, die ich zu Hause hüte.“

      Lottes Blick glitt nach oben, jetzt bekam sie erst recht einen Schreck, die Kanzel war riesengroß, alles war riesig und die Katharinenkirche hatte auf einmal Ausmaße wie der Dom in Münster.

      „Was ist passiert?“, stammelte sie mit klopfendem Herzen.

      „Nichts Nennenswertes, aber du passt jetzt in den Zeittunnel“, antwortete Dietlinde. „An der Nadel, mit der ich dich gestochen habe, ist ein starkes Kräuterserum. Es lässt Menschen für eine gewisse Zeit schrumpfen. Siehst du die kleine Maueröffnung?“

      Lotte nickte.

      „Dort beginnt der Tunnel, er führt direkt in meine Zeit. Komm, nimm meine Hand!“

      Sie gingen über den Kanzelboden auf die Öffnung zu, die nicht größer war als ein Mauseloch und tasteten sich vorsichtig in den dunklen Gang. Zuerst geschah nichts, bis Lotte auf einmal von einem reißenden Strom erfasst wurde, der sie herumwirbelte und von den Beinen riss. Sie schrie gellend auf, Bilder der Burg und von unbekannten Menschen rasten an ihr vorbei. Lotte spürte noch, wie Dietlinde ihre Hand fester umklammerte, dann verlor sie das Bewusstsein.

      *

      Eine andere Welt

      Als Lotte erwachte, lag sie auf einer Wiese im gleißenden Sonnenlicht. Sie musste blinzeln, so hell war es. Wie durch Watte drang Dietlindes Stimme an ihr Ohr: „Hallo, aufwachen!“

      „Wo sind wir?“, fragte Lotte staunend und mit einem mulmigen Gefühl im Magen.


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