Gefahr für Burg Bentheim. Mathias Meyer-Langenhoff
noch etwas wackelig auf den Beinen, als sie stand.
„Ich hoffe, dir ist ersichtlich, dass wir wieder normal groß sind“, fuhr Dietlinde fort, „wir gehen jetzt zu Balthasar. Aber sprich um Gottes willen niemanden an, du siehst nämlich ziemlich absonderlich in deinen Kleidern aus.“
Lotte sah an sich hinunter, sie trug ihre braunen Slipper, Jeans und ein rotes Sweatshirt. Das war doch normal. Dietlindes Aufzug erschien ihr viel seltsamer, sie selbst würde freiwillig nie einen alten Sack als Kleidungsstück tragen.
„Nun schreite los, wir müssen weiter!“, kommandierte Dietlinde. Zielstrebig ging sie auf ein Burgtor mit Zugbrücke zu, das Lotte völlig unbekannt vorkam. Plötzlich ertönte vor ihnen lautes Poltern, und Dietlinde riss sie zur Seite, die beiden Mädchen konnten gerade noch einer Reitergruppe ausweichen, die in die Burg hineintrabte. Es waren tatsächlich echte Ritter, mit offenem Mund staunte Lotte ihnen nach. Alle vier trugen lange, schwarze Umhänge und darunter Kettenhemden, ihre Köpfe bedeckten Metallkapuzen und an den Hüften baumelten riesige Schwerter. Es rasselte und polterte so laut, dass Lotte sich die Ohren zuhielt.
„Komm schon, wir müssen hier entschwinden, so eine wie dich haben die Herren Ritter noch nie gesehen. Ich will nicht riskieren, dass sie zurückkehren!“
„Ob es mir wohl genauso geht?“, antwortete Lotte noch immer entgeistert.
„Das mag sein, aber dennoch solltest du sie nicht wie ein Wunder anstarren!“
Lotte stolperte hinter Dietlinde her. So nach und nach begann sie zu begreifen, dass sie sich in einer völlig anderen Welt befand. Hier war alles viel leiser als zu Hause, abgesehen von dem Lärm gerade auf der Zugbrücke, aber sie hörte überhaupt keine Autogeräusche, und es roch anders, irgendwie nach Natur. Sie bekam eine Gänsehaut, wenn sie daran dachte, dass sie fast sechshundertsechzig Jahre in die Vergangenheit gereist war.
Als die beiden Mädchen durch das untere Tor das Burggelände verließen, erkannte Lotte die Tränke wieder, an der gerade ein Junge einige Pferde beaufsichtigte, doch von Bad Bentheim war nichts zu sehen. Da, wo sich sonst Cafés und Gaststätten befanden und man direkt in die Stadt ging, standen Bäume und Büsche, durch die ein schmaler Fußweg hindurchführte. Die Mädchen folgten dem Weg und kamen an einem Steinbruch vorbei, in dem Männer und Jungen mit großen Hämmern und Meißeln Gesteinsbrocken aus dem Fels brachen. Die Jungen taten ihr leid, denn die Arbeit schien schwer und anstrengend zu sein.
Als sie die ersten Häuser erreichten, stieg Lotte ein fürchterlicher Gestank in die Nase. „Puh, wo sind wir denn jetzt?“ Sie hielt sich die Nase zu.
„Natürlich im Flecken Bentheim, was denkst du?“
So sah Bad Bentheim im Mittelalter aus? Lotte konnte es kaum glauben. Ein Kurort war das jedenfalls nicht, den Gestank und die Mücken konnte ja kein Mensch ertragen. Sie hüpfte hin und her und versuchte so gut es ging, die Insekten davon abzuhalten, sie zu stechen oder in ihre Ohren und Augenwinkel zu krabbeln.
„Du machst aber seltsame Bewegungen, ein Begrüßungstanz ist bei uns eigentlich unüblich.“
Dietlinde, der die fliegenden Quälgeister fast gar nichts ausmachten, begann erst zu kichern und hielt sich dann den Bauch vor Lachen. „Ich weiß übrigens gar nicht, was du hast“, sagte Dietlinde, als sie sich wieder beruhigt hatte, „hier stinkt es doch gar nicht oder höchstens ein bisschen.“
„Na ja“, murmelte Lotte.
Als die Insekten sie einen Augenblick in Ruhe ließen, sah sie, warum es so stank. An den Wegen entlang flossen Rinnsale einer ekelhaften Abwasserbrühe, überall liefen Schweine, Ziegen, Hühner und andere Tiere frei herum oder waren direkt neben den Häusern untergebracht. Vor ihnen lag eine riesige Sau mitten auf dem Weg und grunzte zufrieden vor sich hin.
Ab und zu kamen ihnen Menschen entgegen, die hier offenbar nicht zuhause waren, denn sie trugen Taschen und Bündel. Sie erschienen Lotte bedrückt und müde, meist trugen sie schmutzige und zerrissene Kleidung. Die Einheimischen saßen vor ihren Häusern, und der eine oder andere steckte den Vorbeigehenden etwas zu essen zu. Die Behausungen waren sehr klein und fast alle so gebaut, dass sich das strohgedeckte Dach auf einer Seite bis zum Boden neigte, dadurch entstand ein Überstand als Stall für die Tiere. Überall standen Bienenstöcke, es wuchsen Obstbäume und üppige Beerensträucher voller Früchte. Lotte dachte an den Garten zuhause, in dem ihr Vater pedantisch darüber wachte, dass Sträucher und Bäume ja nicht zu groß wurden und der Rasen nie länger als wenige Zentimeter hochstand. Unauffällig musterte sie die Bewohner Bentheims und staunte. Es wimmelte nur so von Kindern, die nicht nur mit ihren Eltern, sondern auch mit ihren Großeltern unter einem Dach lebten. Sie zeigten mit dem Finger auf sie, lachten oder riefen Dietlinde etwas zu. In all dem Gewirr wühlten auch noch Hunde in Abfällen und Dreckhaufen, die sich überall auftürmten.
„Wo warst du so lange? Wir haben dich schon vermisst!“, rief ein größerer Junge, der ihnen mit einer Gruppe von Kindern entgegenkam.
„Ich musste Botengänge erledigen“, antwortete sie, „dabei habe ich Lotte getroffen, sie hat sich verlaufen. Ich bringe sie zu Balthasar.“
„Wie sieht die denn aus?“, meinte ein Mädchen, Lotte schätzte sie auf sieben oder acht. „Die trägt ja sonderbare Kleider.“
Es zupfte an Lottes Sweatshirt, aber Dietlinde zog sie weiter und rief den Kindern zu: „Sie ist aus einer Adelsfamilie, ihr wisst doch, die sind eben anders als wir. Wenn ich nachher Zeit habe, treffen wir uns am Brunnen!“
„Ich wusste gar nicht, dass ich ein Adelsfräulein bin“, kicherte Lotte.
„Na und? Dann haben sie wenigstens Respekt und machen sich nicht so viel Gedanken über deinen Aufzug.“
Endlich erreichten die Mädchen Balthasars Haus und Dietlinde klopfte an die schiefe Holztür.
„Tritt ein Fremder, die Tür ist offen!“, antwortete eine freundliche Stimme.
Sie betraten das dunkle, schlecht durchlüftete Häuschen. Es war so niedrig, dass Lotte ihren Kopf einziehen musste. Nachdem sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, erkannte sie einen groben Holztisch mit vier Hockern, die Feuerstelle mit einem Rest abgebrannter Holzscheite und eine offene Schranktür, in der das Bett untergebracht war.
Am Tisch saß ein hagerer, hoch aufgeschossener Mann in einer grauen Mönchskutte. Da er sich gerade über ein Buch beugte, konnte Lotte auf seinen fast kahlrasierten Kopf sehen, er trug nur einen Haarkranz.
„Komische Frisur“, dachte sie, aber dann erinnerte sie sich an das Bild eines mittelalterlichen Mönchs aus ihrem Geschichtsbuch. Dr. Teichmann hatte erklärt, das sei eine Tonsur und Priester und Mönche hätten sie als Zeichen ihrer Frömmigkeit getragen.
Balthasar sah auf und erhob sich. „Willkommen, meine Tochter, ich bin Gott dankbar dich gesund und munter wiederzusehen.“
„Gott zum Gruße, Vater“, antwortete Dietlinde, „das hier“, dabei legte sie ihren Arm um Lottes Schultern, „ist Lotte.“
Balthasar beugte sich zu den Mädchen herunter und zeichnete ihnen mit seinem rechten Daumen ein Kreuz auf die Stirn. „Du warst also erfolgreich, mein kluges Kind, ich bin sehr stolz auf dich.“
Dann wandte er sich an Lotte. „Sei gegrüßt, du hast dich sicher über Dietlindes Einladung zu dieser Reise gewundert, deine Anwesenheit hier ist jedoch für uns von großer Bedeutung.“
Lotte staunte. Beim Fußball hatte ihr Trainer sie nach einer längeren Verletzungspause mal mit den Worten begrüßt, es sei gut, sie wieder dabei zu haben. Sie konnte sich noch genau an das tolle Gefühl erinnern, das sie dabei empfand. Jetzt sollte es von großer Bedeutung sein, mit Dietlinde in diesem kleinen, stinkenden Kaff zu sein? Das kam ihr übertrieben vor.
„Ja, aber, was, was … soll ich denn tun?“, stotterte sie.
„Mein liebes Kind“, beruhigte sie Balthasar und schaute einen Augenblick seufzend auf seinen kleinen Hausaltar, „ich