Gefahr für Burg Bentheim. Mathias Meyer-Langenhoff
waschen, sonst wissen die anderen doch sofort Bescheid.“
„Nicht nötig“, antwortete Dietlinde gelassen, „du bedeckst sie ja wieder mit deinen Schuhen und Strümpfen. Nun schließ deine Augen.“
Lottes Anspannung stieg. Würde die Reise zurück in die Zukunft genauso funktionieren wie ins Mittelalter? Was wäre, wenn es schiefginge, und sie für immer hierbleiben müsste?
„Streck deine Hand aus“, kommandierte Dietlinde, „nein, nicht nach unten, wir sind doch gleich groß!“
Wieder spürte sie den kleinen Stich am Finger, und wieder hatte sie das Gefühl, in ihr ziehe sich alles zusammen. Der Schmerz in den Muskeln überraschte sie jetzt zwar nicht mehr, dennoch musste sie die Zähne zusammenbeißen. Als sie die Augen öffnete, war sie überwältigt. Die Blumen und Gräser, die ihr eben noch bis zum Fußknöchel reichten, berührten jetzt fast ihren Hals. Vor ihr standen riesige Füße im Gras, die mussten zu Dietlinde gehören. Tatsächlich, als sie ihren Blick nach oben richtete, sah sie den roten Wuschelkopf mit der Stupsnase.
„Kommst du nicht mit in die Kirche?“
Dietlinde schüttelte den Kopf. „Nein, das geht nicht.“ Sie wies auf das Loch in der Mauer.
„Da ist der Eingang, drüben landest du wieder in der Kanzel. Ich hoffe, wir sehen uns dann morgen.“
Lotte nickte, winkte Dietlinde noch einmal zu und stieg über eine kleine Steintreppe zur Maueröffnung hinauf. Sie tastete sich in den dunklen Gang hinein. Nach kurzer Zeit spürte sie, wie ihr Körper erneut durch den starken Strom erfasst und mitgerissen wurde. Wieder rasten Bilder der Burganlage an ihr vorbei, nur wurden jetzt die Gebäude den heutigen immer ähnlicher, auch die Menschen kamen ihr zunehmend vertrauter vor. Schließlich verlor sie das Bewusstsein.
Als Lotte erwachte, fand sie sich im Inneren der Kirche wieder und saß, wie Dietlinde ihr vorausgesagt hatte, auf dem Boden der Kanzel. Einen Augenblick zögerte sie, dann blickte sie prüfend nach oben, streckte ihren linken Arm aus und merkte, dass sie mit der Hand den oberen Rand berühren konnte. Also hatte sie ihre normale Körpergröße schon zurück. „Dann auf zu den anderen“, murmelte sie und rappelte sich hoch. Die Kassiererin im Kassenhäuschen bemerkte Lotte nicht, als sie wieder den Burghof betrat. Während sie auf den Batterieturm zuging, verließen ihre Klasse, Dr. Teichmann und der Führer gerade die Kronenburg, das Hauptgebäude der Burganlage.
Doro und Tom gingen nebeneinander. Lotte traute ihren Augen nicht, die beiden schienen sich bestens zu verstehen, ihre Freundin lächelte sogar, jedenfalls glaubte Lotte ihre Zahnklammer in der Sonne blitzen zu sehen.
Während sie auf die anderen zuging, dachte sie über eine Entschuldigung für ihren Klassenlehrer nach.
„Ich war auf der Toilette.“
Nein, zu blöd.
„Mir war schlecht, ich musste mich ausruhen.“
Schon besser, aber auch nicht überzeugend.
„Kleiner Doktor, Sie gehen mir so auf den Geist, ich war mal eben im Mittelalter.“
Das würde wieder Stress mit Teichmann bedeuten. Also entschied sie sich für Möglichkeit zwei. Lotte rechnete damit, streng zur Rede gestellt zu werden. Ihr Herz klopfte wie heute Morgen, als sie vor der Klassentür stand.
„Herr Dr. Teichmann, ich …“
Er beachtete sie überhaupt nicht, kein Anzeichen von Überraschung, Ärger oder Enttäuschung. Oder wollte er sie bewusst übersehen?
„War gar nicht schlecht, die Burgführung“, meinte Doro, als sei Lotte gar nicht weg gewesen. Plötzlich fiel es ihr wieder ein, der Zeitzauber. Und dass sogar Doro nichts bemerken würde, hatte Dietlinde auch vorausgesagt.
Lotte seufzte erleichtert. „Hast recht, aber ich schätze, du meinst bestimmt nicht nur die Besichtigung“, antwortete sie.
„Vielleicht.“ Doro grinste.
„So, Kinder, nun bin ich mit meiner Führung am Ende, ich hoffe, sie hat euch gefallen.“ Mit einem Seitenblick auf Dr. Teichmann fügte Franz Somberg hinzu: „Gutes Gelingen bei der Hausaufgabe, die Broschüre bekommt ihr gleich an der Kasse.“
Nach einer kühlen Verabschiedung von dem Burgführer steuerte Dr. Teichmann dem Ausgang entgegen, langsam gefolgt von seiner Klasse.
*
Lottes Geständnis
Doro strahlte jetzt über das ganze Gesicht. Sie plauderte mit Tom, der wieder hinter ihnen saß, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Lotte kannte sie fast nicht wieder.
„Warum guckst du so?“, fragte Doro, als Tom sich gerade mit seinem Sitznachbarn unterhielt.
„Nur so“, log Lotte. „Machen wir heute Nachmittag die Burgbeschreibung zusammen? Ich glaube, wir haben morgen schon wieder bei Teichmann. Außerdem muss ich ja noch die Strafarbeit schreiben. Und ein bisschen zu erzählen gibt’s ja auch noch, oder?“, fügte sie mit Blick nach hinten hinzu.
„Sei nicht so neugierig“, antwortete Doro. „Gegen drei? Dann sind bei uns alle weg, meine Schwester hat Training und Mama und Papa sind arbeiten.“
Lotte nickte. Sie beschloss Doro am Nachmittag von der Zeitreise zu erzählen. Denn wem, wenn nicht ihrer besten Freundin, sollte sie diese Geschichte sonst anvertrauen?
„Teichmännlein hat die Burgführung wohl nicht so gut gefallen.“ Toms Gesicht tauchte zwischen den Rückenlehnen ihrer Sitze auf. Mit einem breiten Grinsen wies er auf Dr. Teichmann, der vorne neben dem Fahrer saß und schweigend aus dem Fenster sah.
Lotte gönnte ihm die schlechte Laune. Jetzt war sie gefahrlos, denn die Führung war zu Ende, und Hausaufgaben hatte er schon aufgegeben.
„Endlich hat ihm mal jemand gezeigt, wo’s lang geht“, meinte Doro. Lotte fiel auf, dass sie kaum nuschelte und überhaupt nicht rot wurde.
„Der Burgführer war nett“, sagte Lotte.
„Stimmt, und er hat gut erklärt“, nickte Tom.
Auf der Straße kam ihnen der Bus mit der Nordhorner Handballmannschaft HSG entgegen. Die Jungs, die ihn zuerst entdeckten, fingen sofort an aus Leibeskräften den Vereinsschlachtruf zu brüllen. Eigentlich ein Fall für Dr. Teichmann, aber nicht mal jetzt sagte er etwas und starrte einfach weiter aus dem Fenster. Erst als sie die Schule erreicht hatten, erinnerte er über das Bordmikrofon noch einmal an die Hausaufgabe. Während Lotte und Doro zu ihren Rädern auf dem Schulhof gingen, klingelte es. Kurze Zeit später öffneten sich die Türen, und das Schulgebäude spuckte Hunderte von Schülern aus.
„Ich habe vielleicht einen Hunger“, meinte Doro, als sie ihr Fahrrad aufschloss.
„Bei uns kocht Papa, ich schätze, es gibt Nudeln mit Tomatensoße, kannst ja mitkommen“, antwortete Lotte.
„Nö, wir lassen es lieber bei der Verabredung um drei.“ Die Mädchen bestiegen ihre Räder und machten sich auf den Heimweg.
Lotte hatte recht. Als sie nach Hause kam, roch sie schon die frische Tomatensauce, wie immer hatte ihr Vater mit viel Knoblauch gekocht und einen riesigen Salat gemacht. Er hatte Urlaub und liebte es dann seine Familie zu versorgen. Lotte ließ ihre Tasche im Flur fallen und ging in die Küche.
„Hallo mein Schatz, du kommst genau richtig, das Essen ist gerade fertig.“ Er stand vor dem Herd und war mit den Spaghettis beschäftigt.
„Ist Paul noch nicht da?“ Ihr großer Bruder hatte dienstags eigentlich auch nach der sechsten Stunde frei.
„Nein, er hat noch ein Treffen wegen der Schülerzeitung“, antwortete