Götterglaube. Kristina Licht
stöhnte frustriert und sein warmer Atem streifte meine Wange. »Was krieg ich dann für zweihundert geboten?«
Da die Musik gerade zwischen zwei Liedern verstummte, bekam die Frage bestimmt jeder in der Umgebung mit. Ich schluckte meine Nervosität hinunter. Dieses Gefühl kam nicht durch die Aussicht, diesem Fremden näher zu kommen, sondern durch meine plötzliche Entscheidung, etwas zu verändern: meiner Taubheit den Kampf anzusagen. Ich wollte wieder etwas fühlen.
»Komm mit, dann zeige ich es dir«, antwortete ich und nahm den Fremden bei der Hand. Allein die Möglichkeiten, die sich mir offenlegten, ließen mein Herz endlich höherschlagen. Ich hatte die Kontrolle, spürte die volle Ladung Adrenalin, ohne dabei in Lebensgefahr zu schweben.
Ich brauche dich nicht, Ewan.
Ich zog ihn in den Gang, der zu den Toiletten führte. Hier war kaum etwas los, die Musik war leiser und ein Pärchen knutschte in einer der dunklen Ecken. Die letzten Nächte hatte mich nichts dazu hinreißen können, mich fallen zu lassen, doch heute brauchte ich es. Ich war endlich bereit, Ewan und Falk zu vergessen. Ihre Blicke, ihre Berührungen, ihre Geheimnisse. Alles von ihnen wollte ich vergessen.
Ich drückte den jungen Mann gegen die Wand und fing seinen Blick mit meinem auf, während ich begann, meine Bluse aufzuknöpfen. Langsam, einen Knopf nach dem anderen.
Wie erwartet, konnte der Mann den Blickkontakt nicht lange halten. Ich beobachtete, wie er mich beobachtete, oder besser gesagt meine Finger. Ich zog den Stoff ein wenig beiseite, um ihn durch die Rundungen meiner Brüste heiß zu machen. Ihn wahnsinnig zu machen. Das war alles, was ich im Sinn hatte. Ein wenig mit ihm zu spielen, um nur ein paar Sekunden länger mein lautes Herzpochen zu genießen und alles andere zu vergessen. Ich genoss die Gier, welche in seinem dunklen Blick flackerte, und das Gefühl von Kontrolle.
Bis mich plötzlich jemand so heftig zur Seite schubste, dass mir die Luft wegblieb.
»Dein Ernst, Andy?«, schrie eine Frauenstimme.
Statt lüsternem Begehren breitete sich in dem Gesicht des Mannes nun sprachloses Entsetzen aus.
»Du betrügst mich?«, brüllte die Frau, die mich weggeschubst hatte.
Oh, oh.
Hastig knöpfte ich ein paar der Knöpfe wieder zu und schaute zwischen den beiden hin und her. Ich hätte etwas sagen können, um die Wogen zu glätten, entschied mich aber dafür, still und heimlich im angrenzenden WC zu verschwinden. Sollten die beiden das ruhig allein klären. Auch wenn das bedeutete, dass ich von dem Typen heute kein Geld mehr sehen würde. Verdammt.
Ich spritzte mir etwas Wasser ins Gesicht, zog meinen Lippenstift nach und ging erst wieder raus, als ich sicher war, dass Andy und seine Freundin nicht mehr vor der Tür stehen würden.
Kaum trat ich hinaus auf den dunklen, lauten Flur, zog mich jemand zur Seite und presste eine kräftige Hand auf meinen Mund. Der Schrei blieb in meiner Kehle stecken, während ich die Luft anhielt und betete, dass es nicht Ewan oder Falk war. Sie durften mich nicht gefunden haben. Sie konnten nicht.
»Die nuttig roten Lippen passen zu deinem neuen Job«, raunte mir eine vertraute Stimme ins Ohr. Ein Frösteln rieselte durch meinen Körper, eine Gänsehaut überzog meine nackten Arme. Nein! Augenblicklich schoss mein Puls in die Höhe und alles an Gefühlen, was ich in den letzten Tagen verloren geglaubt hatte, fegte durch mich hindurch wie ein tosender Sturm.
Ich spannte die Muskeln an und stieß meinen Ellenbogen schonungslos nach hinten in Ewans Magen. Tatsächlich lockerte er für eine Sekunde seinen Griff und ich konnte mich aus der Umklammerung befreien. Wütend wirbelte ich herum und schaute in sein perfektes Gesicht. In ein stechend dunkles, atemberaubendes Augenpaar.
»Das ist nicht rot, sondern bordeaux, du Arschloch«, fauchte ich und holte tief Luft. Auf eine Antwort wartete ich nicht. Ich machte auf dem Absatz kehrt und wollte wegrennen, doch Ewan griff mein Handgelenk. Unsanft wurde ich zurückgezerrt.
»Lass mich los!«, zischte ich und verengte die Augen zu Schlitzen. Wie hatte er mich hier bloß finden können?
»Für was wirst du alles bezahlt?«, fragte er dunkel. »Gras, Pillen, deine Titten. Strippst du auch? Oder bläst?«
Ich versuchte, ruhig zu bleiben. Von ihm würde ich mich nicht mehr provozieren lassen. Ich war seine verbalen Schläge gewöhnt. »Neidisch, weil du meine Titten noch nicht gesehen hast?«
Ewans Nasenflügel blähten sich auf. Sein Kiefer zuckte.
Ich hob einen Mundwinkel. »Für hundert Mäuse siehst du sie.«
Er schwieg – als suche er nach einer geeigneten Antwort. Aber ich hatte Neuigkeiten für ihn. Keine Antwort würde ihm das geben, was er wollte: Kontrolle über mich.
»Blasen tue ich nur für hübsche Männer mit hübschen Schwänzen«, fuhr ich unbeirrt fort. »Für zweihundert. Oder ist das zu wenig? Mist, glaubst du, der Kerl vor ’ner Stunde hat mich abgezogen?«
Ewans Gesicht wurde blass. Er versuchte, aus meinem letzten Satz schlau zu werden, überlegte, ob ich es ernst meinte. Ich wusste, was er dachte. Und das fühlte sich verdammt gut an.
»Und jetzt stiehl mir nicht meine Zeit, wenn du nicht bezahlen willst. Eine Nutte – so hast du mich doch genannt, oder? – sollte ihre Zeit nicht mit dir verschwenden.« Mit voller Wucht entriss ich ihm mein Handgelenk und hechtete aus seiner Reichweite.
Als ich das Ende des verlassenen Ganges erreicht, mich zwischen mehrere Menschen gemischt hatte und die dröhnenden Bässe und die flackernden Lichter mich wieder empfingen, fühlte ich mich ein Stück sicherer. Trotzdem musste ich hier weg, um nicht erneut von ihm geschnappt zu werden. Andererseits … Vermutlich dachte er sich bereits, dass ich hier rauswollte. Er würde mich also am Ausgang abfangen und in sein Auto zerren können. Ich musste auf andere Weise untertauchen.
Mein Blick glitt suchend durch die Menge, die sich auf der Tanzfläche aneinanderdrängte. Würde ich zwischen all den Leuten auffallen? Ich schob mich bis in den Mittelpunkt hinein, passte meine Bewegungen dem Rhythmus der Musik an und hoffte, dass mein Plan aufging. Ewan musste einfach denken, dass ich rausstürmen würde. Also blieb ich hier und tat das Gegenteil von dem, was mein Fluchtinstinkt mir riet.
Ich blickte all den fremden Gesichtern entgegen, die von den flackernden bunten Lichtern erleuchtet wurden und die sich teilweise mit geschlossenen Augen der Musik hingaben. Andere wiederum sahen sich suchend um, als hätten sie den Grund für ihren Besuch hier noch nicht entdeckt, als lauere er irgendwo zwischen all den namenslosen Menschen.
Ich atmete tief aus und schloss für einen Moment die Augen. Ewans Auftauchen hatte mich so sehr aufgewühlt, dass mein Körper unkontrolliert zitterte. Die ersten Tage hatte ich noch damit gerechnet, dass er auftauchte, hatte ihn an jeder Ecke gesehen – doch heute hatte ich mich sicher gefühlt.
Ein Gefühl, von dem ich nicht mehr wusste, ob es mir jemals wieder vergönnt sein würde.
Ich ließ mich von den Bässen tragen, fühlte mich wie auf Wolken, während ich mit geschlossenen Augen nach einem Ruhepol in meinem Körper suchte. Ich musste überlegen, wie es jetzt weiterging. Sollte ich meine Sachen aus dem Hotelzimmer packen und den Zug in die nächste Stadt nehmen?
Warme Arme umschlossen von hinten meine Taille und ich ließ mich gegen den Fremden sinken, der sich mit mir zum Takt der Musik bewegte. Es war paradox, dass Fremde mir mehr Sicherheit boten als alles Bekannte.
»Nur so kommt man an dich ran, oder?«, erklang eine raue Stimme hinter mir.
Diese Stimme gehörte keinem Fremden. Ich hielt den Atem an und riss die Augen auf.
»Du hörst mir jetzt zu«, sprach Ewan ganz dicht an meinem Ohr. Seine Hände ruhten noch immer an meinen Hüften, über dem Bund meiner Hose, wo ein Streifen nackter Haut offen lag. Rau, warm und groß fühlten sich seine Handflächen an, und ich versuchte verzweifelt zu atmen. Mein Magen verknotete sich unter dieser intimen Berührung. Sie fühlte sich so viel intensiver an als die Hände von diesem Andy.
»Ich