Sommer ohne Horst. Manfred Rebhandl
nur weil alle Signale genau darauf hindeuteten: „No means no!“ Es wurde eben nie etwas einfacher im Leben, sondern eher im Gegenteil immer alles noch schwieriger.
Daher kam es immer öfter vor, dass ich abends ganz ohne Lady an meiner Seite nach Hause fahren musste und mir dann einredete, dass der Tag trotzdem schön gewesen war; dass der Duft nach Sonnencreme, nach Wassereis am Stiel und nach Schweiß, der die weiblichen Körper ja immer noch bedeckte, mir genügte und ich auch einfach so glücklich sein konnte. (Oder ich nahm Friederike mit nach Hause, was aber wirklich die allerletzte Option war, während Horst immer irgendeine andere Option hatte, und immer war sie schlank.) Glücklich war ich dann aber natürlich nur im Vergleich zum ganzen Rest des beschissenen Jahres, in dem dann wieder Dauerwinter herrschte, und das dann immer mit diesem elenden Weihnachten ausklang und mit dem noch viel elenderen Silvester endete, bevor sich dann im Jahr darauf vielleicht wieder ein Azorenhoch bildete, aber viel öfter natürlich nicht.
Zufriedenheit war eben eine Frage der Perspektive.
In letzter Zeit kam es aber vor, dass ich Horst mitten auf der Liegewiese hocken sah, wo er kleine Blümchen auszupfte, an ihnen roch, als wäre er der Vollromantiker, und sie dann nachdenklich in den Wind warf. Sehnsuchtsvolle Gedanken schienen ihn dann zu quälen. Und er wirkte wie dieser Typ, der die ganze Welt auf seinen Schultern tragen musste und dem dabei die Knie schlotterig wurden. Oder wie eine Schlange, die dabei war, ihre alte Haut abzustreifen, sie aber nicht herunterkriegte. Oder was weiß ich, wie er wirkte!
Deswegen fragte ich ihn dann sogar einmal beim Herrengedeck in der Kantine, während Erwin uns noch ein Bier brachte: „Was denkst du eigentlich, wenn du so in der Wiese hockst und Blümchen zupfst?“
Diese eine Frage ließ normalerweise jeden Mann durchdrehen, sobald sie ihm gestellt wurde. Aber Horst erschrak nur kurz, als wäre es ihm unangenehm, dabei beobachtet zu werden, wie er Blümchen zupfte und nachdachte. Und wie auch nicht? Er war doch Horst, das Tier! Und Tiere denken nicht nach, Tiere erlegen ihre Beute.
Seufzend sagte er: „Ach, weißt du, Rock. Ich habe manchmal tief in mir drinnen das Gefühl, dass …“
„… du nicht alleine bist?“
Das hatte mir nämlich Kubelka mal über ihn gesagt, als er Horst in Willis Pornhouse sitzen sah, wo er lieber nachdenklich in seinen Popcornsack hineinschaute und die Körner zählte als auf die Leinwand, wo sich Bunny Beach gerade mit ihrem Rettungsschwimmer vergnügte. Als würde es ihn überhaupt nicht interessieren! „Der ist auch nicht alleine“, hatte Ku mir damals zugeflüstert, als er ihn so sah. Aber Horst schüttelte nur den Kopf über meine Frage: „Was? Warum soll ich denn so einen Scheiß denken? Und was soll das überhaupt heißen?“
„Keine Ahnung!“
„Also, wenn du wissen willst, was ich denke, dann sage ich es dir.“
„Sag!“
„Ich denke, dass ich … nicht bin, der ich wirklich bin.“
„Dass du nicht bist, wer du wirklich bist? Was denkst du denn für einen Scheiß? Wenn wir mal davon absehen, dass du Pamela Anderson noch nicht gehabt hast, dann bist du doch der, der sie alle gehabt hat. Du hast doch ein echt geiles Leben!“
Da schaute er nachdenklich in sein Bierglas hinein, umfasste es wie ein Bär sein Honigglas und meinte irgendwie resigniert: „Wenn du es so siehst, dann Ja. Dann allerdings Ja.“
Und er schaute mich an, als würde ich rein gar nichts verstehen von der Welt, in der er lebte, und von dem, wonach er sich sehnte. Und als ich ihm dann die nächste heiße, braungebrannte und durchtrainierte Lady auf der Wiese zeigte und „Los, los!“ sagte, erhob er sich nur müde und ohne wirklichen Antrieb, und er näherte sich ihr nicht wie der hungrige Löwe, den ich in ihm sah, sondern wie der alte Wolf, der nur noch schlafen wollte. Natürlich dauerte es trotzdem keine zwei Minuten, bis sie ihm mit Sonnencreme ihre Telefonnummer an die Innenseite seiner gewaltigen Schenkel malte und er ihr dabei tief in die Augen schaute. Auf einen Anruf von ihm musste sie dann wie so oft lange warten, denn Horst musste ja vorher noch ein paar andere glücklich machen.
Das war mein Horst. Und das waren die Zeiten.
***
Aber wo verdammt noch mal war Horst?
Ich betrat die Wiese und merkte sofort, dass ohne ihn jede Ordnung verloren gegangen war. Dabei hasste ich nichts mehr, als wenn die Jugendlichen seitlich ins Becken sprangen, was selten vorkam, wenn er hier war. Horst wusste nämlich von uns allen am besten, wie man den Bauch richtig einzog und dadurch den Brustkorb möglichst noch mächtiger erscheinen ließ. So war er im Bad auch für die vorstädtische, männliche Jugend zu einem freilich unerreichten Vorbild geworden, das ihnen zu Hause fehlte. Wie er immer dastand am Rand des Beckens: stoisch und unangreifbar; die langen, blonden Haare im Nacken; die Hände gegen die Hüften gestemmt; das Kinn gerade nach vorne. So konnte jeder lernen, wie man stehen musste, wenn man ein richtiger Mann sein wollte. Diese Ruhe in Kombination mit den zusammengekniffenen Augen (weil die Sehkraft natürlich auch bei ihm langsam nachließ) verschaffte ihm eine Autorität, die alle Rotzlöffel, die noch nie etwas von Benimm gehört hatten, davon abhalten sollte, seitlich ins Becken zu springen. Und sein wütendes Schreien, mit dem er sie vom Beckenrand vertrieb, wenn sie seiner Autorität nicht Folge leisteten, schaffte es dann tatsächlich. Horst konnte richtig unangenehm werden, wenn einer nicht tat, was er wollte. Dann pfiff er wie ein Kochtopf, und das Gesicht um seinen Schnauzer herum wurde ganz rot. Manchmal hatte selbst ich Angst vor ihm, und ich fragte mich, woher diese Wut bei ihm kam, aber ich hatte keine Antwort darauf. Und die von Kubelka, dass er „nicht alleine“ war, genügte mir nicht. Es war dann nur so, dass ich manchmal auch bei Horst nicht glaubte, dass ich mit ihm befreundet war.
Die meisten der Jugendlichen waren aber mittlerweile ohnehin so fett, dass sie gar nicht mehr ins Becken springen konnten. Sie lagen daher einfach nur mitten am Weg zur Wiese irgendwo auf dem Beton herum, hatten die Lautsprecher ihrer Scheißphones voll aufgedreht, und hörten sich darauf ihre Scheißmusik an: „Yo!“ und „Ey!“ und irgendwas mit „Ficken!“ war dann zu hören von irgendwelchen Scheißtypen, die von Muschis, Fotzen, Sahne und Autos sangen. Und von allerlei Müttern, die sie ebenfalls ficken wollten, und zwar bevorzugt in den Arsch. Man wollte zwar schon möglichst lange jung bleiben, aber irgendwie nicht zu lange so jung. Dieses ständige „Yo!“ und „Ey!“ machte einen richtig fertig. Ich sagte also zum Nachwuchs: „Habt ihr noch nie von Creedence Clearwater Revival gehört?“ Das war nämlich richtig gute Musik! Aber sie lachten nur über mich und drehten den Scheiß wegen mir nicht leiser, sondern im Gegenteil noch lauter: „Ey! Yo!“
Ich verzichtete auf das Herrengedeck in der Kantine bei Erwin und kaufte mir stattdessen eine Semmel mit Leberkäse drin, der vor drei Tagen noch unter einem Sattel stand. Dann biss ich hinein und überlegte, wo Horst sein könnte: auf einer Lady? Unter einem Auto? Ich fragte Erwin, der auch ganz schön blond war an seinem Vokuhila, ob er eine Ahnung hätte. Aber der stützte nur die linke Hand in die Hüfte und verscheuchte mit einem Geschirrtuch in der rechten eine Fliege, bevor er säuselte: „Nein! Und ich mache mir wirklich Sorgen um ihn!“ Mit Betonung auf wirklich.
„Und ich vielleicht nicht?“
Nachdem also auch er keine Antwort hatte auf die Frage, wo Horst sein könnte, suchte ich vorläufig das Positive im Leben und dachte: Wenn Blondie heute nicht eincremte, dann war vielleicht ich es, der es tun würde?
Ich verließ die Kantine und latschte zurück zur Wiese, und auf dem Weg dorthin legte ich mir sogar schon einen guten Anmachspruch zurecht, der in etwa lautete: „Na?“
Vielleicht würde ich heute sogar eine mit nach Hause nehmen? Ich musste dann nur damit leben, dass ich nicht die erste Wahl für die Mädels hier war. Die erste Wahl war nämlich Horst, und zwar immer. Allerdings war die zweite Wahl in diesen schwierigen Zeiten auch nicht ganz schlecht. Ich musste dann nur ruhig bleiben, wenn eine „Horst? Bist du es?“ zu mir sagte, sobald sie morgen früh neben mir aufwachte. Und wenn sie dann enttäuscht wäre, dann wäre es egal, weil wir den guten Teil der Übung ja längst hinter uns gebracht hätten.
Ich checkte die Lage auf der Wiese und