Safe Harbor. H.J. Welch
so musste es sein. Dair hatte sich nämlich vorgenommen, nach der Arbeit noch einkaufen zu gehen und etwas Besonderes zu kochen. Vermutlich ein thailändisches Gericht. Das liebten sie alle drei am meisten. Doch dann – es war mal wieder typisch – kam genau im richtigen Moment noch ein Kunde mit einem Notfall in die Werkstatt gerollt. Seine Stoßstange und der Kofferraum waren bei einem kleineren Unfall verbeult worden.
Wie nicht anders zu erwarten, verdünnisierten sich Dairs Kollegen nach hinten. Schließlich war bald Feierabend.
Dair störte sich nicht daran. Der alte Mann, der den Wagen fuhr, war ziemlich durcheinander. Er war von einem jungen Mann gerammt worden, der vermutlich betrunken gewesen war. Dair befürchtete, dass seine Kollegen sich über den alten Mann lustig machen würden. Er nahm sich Zeit und versicherte ihm, dass sie sich um alles kümmern würden und er sein Auto morgen wieder abholen könnte. Dann wartete er noch, bis der Sohn des alten Mannes kam und ihn abholte, bevor er sich an die Arbeit machte.
Als er das verbeulte Auto endlich repariert hatte, war außer ihm niemand mehr in der Werkstatt. Er hatte nicht mehr genügend Zeit, um sowohl einkaufen zu gehen, als auch zu kochen. Aber es war Robins besonderer Urlaub. Peyton hatte erzählt, er wollte nach Hause fahren, wo seine Abschlussklasse aus der Oberschule ihr zehnjähriges Jubiläum feierte. Ein solches Jubiläum feierte man nicht jeden Tag.
Nachdem er die Werkstatt abgeschlossen hatte, loggte er sich mit dem Handy bei seiner Bank ein, um seinen Kontostand zu überprüfen. Es sah nicht allzu gut aus, zumal die Reparaturrechnung von heute noch nicht abgebucht war. Egal. Er konnte das Essen im Restaurant bestellen, mit seiner Kreditkarte bezahlen und sie im nächsten Monat ausgleichen. So viel kostete es schließlich nicht.
Heute hatte er die Chance, Robin zu beweisen, dass er gar nicht so einschüchternd war. Dass sie richtige Freunde werden konnten. Dair wusste, dass Robin – aus welchem Grund auch immer – ein Problem damit hatte, dass er nicht schwul war. Dair waren solche Sachen egal. Seine Kollegen waren demonstrativ nicht schwul und trotzdem Arschlöcher.
Außerdem arbeitete Robin viel zu hart. Dair nahm zwar auch nie Urlaub, hatte dazu aber auch keinen Grund. Robin dagegen musste man gewaltsam von seinem Laptop wegziehen, selbst wenn er schon vor Monaten beschlossen hatte, eine Veranstaltung zu besuchen. Dair hatte in der kurzen Zeit seit seinem Einzug festgestellt, dass man das am einfachsten mit einem guten Essen schaffte. Und mit Bier.
Dair fühlte sich schon etwas besser, als er zu seinem Truck ging. Er schwenkte den Schlüsselbund und beschloss, sich nicht zurückzuhalten. Wenn schon, denn schon. Schließlich musste er morgen nicht arbeiten.
Er mochte weder Familie noch Freundin haben und seine Kollegen mochten Idioten sein, aber dafür hatte er zwei höchst ungewöhnliche Freunde. Dair wollte Robin endlich beweisen, dass er immer für ihn da war und dass Robin auf ihn zählen konnte.
Und Liebe ging – wie das alte Sprichwort besagte – durch den Magen.
Kapitel 2
Robin
»Peyton! Nein! Gib das zurück!«
Robin Coal sprang hilflos vom Sofa auf, als seine beste Freundin ihm das Handy wegnahm und damit davonlief. »Äh-äh! Heute fängt dein Urlaub an.«
Robin wusste, dass sie nur scherzte und es gut meinte, aber sein Blick war besorgt auf das Handy gerichtet. »Äh, was das angeht…«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf und das Handy gleich mit. »Du hast die Arbeit an deine Vertretung übergeben. Du hast eine ganze Woche frei. Sie werden auch ohne dich überleben.«
Robin biss sich auf die Unterlippe. »Na ja, der Server ist ausgefallen und sie wollen lokal arbeiten, um weiterzumachen und… Das ist eine verdammt idiotische Idee und sie wollen es einfach nicht kapieren! Ich dachte mir, dass ich…«
»La, la, la!« Peyton wich ihm aus und lief auf die offene Küche der kleinen Wohnung zu. »Ich habe dir gesagt, ich würde dich auch drangsalieren, wenn es nötig wird. Weil ich nämlich deine allerbeste Freundin bin und das darf.« Sie öffnete den Kühlschrank und schob das Handy hinter die Milch und Dairs Proteindrinks.
Robin kreischte.
»Was ist, wenn… Dair anruft? Er ist schon zu spät dran. Ich mache mir Sorgen um ihn.« Es war ein ziemlich dürftiges Argument, aber er versuchte es trotzdem.
Peyton schürzte verächtlich die Lippen. »Dair ist ein großer, starker Marine. Ihm ist nichts passiert. Hör auf, das Thema zu wechseln. Du wirst zu diesem verdammten Klassentreffen fahren!«
Natürlich hatte sie recht, was Dair betraf. Und was Robin betraf, auch. Er hatte den Urlaub schon vor Monaten beantragt. Und jetzt hatte er das Büro verlassen und sein Projekt abgegeben und wurde plötzlich von Panik gepackt. Er war immer erreichbar. Immer. Als Softwareentwickler für Ticking Clock Entertainment zu arbeiten, mochte ihn in den Augen der meisten Menschen nicht unverzichtbar machen. Sie betrieben eine kleine Kette von Freizeiteinrichtungen in Seattle und Umgebung, darunter Spielhallen, Bowlingbahnen und Fluchträume. Ohne Robin und sein Team würde das ganze Unternehmen kollabieren.
»Ich habe versprochen, die Dinge im Auge zu behalten«, wollte er ihr widersprechen. Peyton verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Er verzog das Gesicht. »Wirklich, ich weiß noch gar nicht, ob ich wirklich nach Hause fahren will und…«
»Ich wusste es!«, rief Peyton. Sie hielt die Hände an den Kopf und sah ihn entsetzt an. »Nein, Robin! Es ist dein zehnjähriges Klassentreffen! Dein Bruder bereitet es seit einem halben Jahr vor. Du würdest ihm das Herz brechen. Und außerdem… Wann warst du eigentlich das letzte Mal zu Hause?«
Robin wurde von Schuldgefühlen gepackt und knabberte an den Lippen. Er telefonierte fast jeden Tag mit seinem Zwillingsbruder, deshalb wusste er sehr wohl, wie viel Herzblut Jay in die Planung dieses Treffens gesteckt hatte. Nicht zu vergessen, dass seit Jays letztem Besuch in Seattle – arbeitsbedingt – schon Monate vergangen waren und Robin langsam verrückt wurde, weil er ihn so lange nicht gesehen hatte.
»Ich weiß«, gab er zu und hob die Hände. »Aber im Büro ist die Hölle los und ich will sie einfach nicht im Stich lassen. Ich bin sicher, dass Jay es verstehen wird und ich…«
Ein fiependes Bellen unterbrach sie. Robin schaute nach unten, wo ein kleines, fluffiges Fellknäuel mit überraschend scharfen Zähnen nach dem Saum seiner Jeans schnappte und knurrend daran zerrte.
Peyton lachte. »Siehst du? Smudge gibt mir recht. Stimmt's, Smudgy?«
Das kleine Fellknäuel knurrte und wedelte hektisch mit dem Schwanz, ohne Robins Jeans aus den Fängen zu lassen. Robin bückte sich seufzend, hob das neuste Mitglied von Dairs Menagerie hoch und streichelte es. Theoretisch war es ihnen nicht erlaubt, Haustiere zu halten, aber der Hausverwalter ließ sich so gut wie nie blicken.
Nach dem Auszug ihres letzten Mitbewohners waren Peyton und Robin mit ihrer Weisheit am Ende gewesen. Jeder potenzielle Untermieter für das dritte Zimmer, mit dem sie gesprochen hatten, war ein absoluter Spinner gewesen. Dann war Dair in ihr Leben getreten und hatte sofort zu ihnen gepasst. Peyton, die aus einer Militärfamilie stammte, wollte den ehemaligen Marine schon aus Loyalität nicht abweisen. Ihr und Robin gefiel vor allem, dass Dair einen festen Job hatte und grundsätzlich kein Arschloch zu sein schien. Dazu kam noch, dass er genauso gerne thailändisch aß wie sie. Damit war der Deal besiegelt.
Es war auch kein Fehler, dass Robin Dair auf eine etwas schmutzige und ungehobelte Art höllisch sexy fand. Allerdings war Dair nicht schwul, also bestand nicht die Gefahr, dass zwischen ihnen etwas passieren konnte oder es peinlich wurde. Selbst Peyton wusste nichts von Robins dummer kleiner Schwärmerei.
Dair war jedoch nicht nur ein Muskelpaket, er war auch lustig und nett. Vielleicht sogar zu nett, wie der kleine Zoo in ihrer Wohnung zeigte. Sie hatten ihm das Zimmer schon zugesagt, als sie von seinem Anhang erfuhren. Weder Robin noch Peyton wollten das Angebot zurückziehen, also blieb ihnen nichts anderes übrig, als das Risiko einzugehen und die drei Katzen und zwei Hunde ebenfalls aufzunehmen, die Dair im Lauf der Jahre adoptiert hatte.