Seit ich dich kenne .... Jascha Alena Nell

Seit ich dich kenne ... - Jascha Alena Nell


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„Der Feist kaut deinen Eltern sicher gerade ein Ohr ab. Und Timo verzehrt sich vor Sehnsucht nach dir, also lass uns gehen.“

      „Ja“, dachte ich, während ich mich in Bewegung setzte. „Auf geht’s zu meinen geliebten Eltern, meinem wunderbaren Freund, meinem liebenswerten Klassen- und Mathelehrer und meinem Einserabitur, das mir den Weg ins weitere Leben ebnen wird.“

      ***

      Chris: „Na ja, es ist noch nicht völlig Hopfen und Malz verloren.“ Frau Rabenstein fuchtelte fahrig mit den Händen in der Luft herum, sie hatte wohl schon einen kleinen Schwips und war nicht mehr ganz Herrin ihrer Sinne. Was sie meinem Vater da

      verzapfte, war jedenfalls totaler Bullshit.

      Papa umklammerte sein Sektglas so fest, als würde sein Leben davon abhängen, und klebte förmlich mit den Augen an Frau Rabensteins Lippen. Olivia und ich tauschten einen entnervten Blick. Ich kippte mein nunmehr fünftes Glas Sekt und sehnte mich nach etwas Stärkerem. Wodka wäre super ... Eigentlich hatte ich diese stinklangweilige Sause längst verlassen und auf eine richtige Party gehen wollen. Bei Simon wartete nicht nur Wodka, sondern auch eine Wasserpfeife auf mich und bestimmt gab es auch einen Joint.

      „Ich sehe bei Ihrem Sohn durchaus Potenzial“, ließ Frau Rabenstein gütig verlauten und betrachtete mich dabei voller Mitleid und Hoffnung, als wäre ich ein Versager, bei dem jedoch vielleicht, wirklich nur vielleicht, eine Wendung zum Besseren möglich war.

      Keine Ahnung, warum sie sich so aufführte, mein Zeugnis war okay. Gut, ein Schnitt von 3,7 war jetzt nicht besonders berauschend, aber meine Güte, ich war 19. Herrgott, ich wusste gar nicht, warum mein Alter sich so aufregte. Die Schule war beendet und damit war ich eh weg von ihm. Erst mal würde ich versuchen herauszufinden, wo meine Mutter inzwischen lebte, und dann würde ich ihr einen Besuch abstatten. Ansonsten hatte ich vor, mein Leben zu genießen, durch die Gegend zu ziehen und alles einfach passieren zu lassen. Ich stellte mir den Rest meines Lebens unglaublich locker und geil vor. Nie wieder pauken für irgendwelche Abschlussprüfungen, nie wieder Vorträge vor einer gelangweilt dreinblickenden Klasse halten, nie wieder Vokabeln lernen ... Ich hatte es tatsächlich geschafft, den höchsten Schulabschluss, den es in Deutschland zu erreichen gab, erfolgreich zu bestehen. Das war doch mal eine Leistung! Wen kümmerte es schon, dass ich nur eine einzige Eins im Zeugnis hatte, und zwar in Sport? Wie Olivia vorhin schon zu der komischen Rothaarigen mit den grandiosen blauen Augen gesagt hatte: Wer interessierte sich in ein paar Jahren noch fürs Abitur? Da zählten andere Qualitäten.

      Ich sah mir Olivia genauer an und spürte, wie ich hart wurde. Sie war wirklich unglaublich sexy, am liebsten würde ich sie hier an Ort und Stelle flachlegen ...

      Kurz überlegte ich, wie mein Vater und meine Klassenlehrerin wohl darauf reagieren würden, wenn wir hier in aller Öffentlichkeit einen Quickie hinlegten.

      Frau Rabenstein würde wahrscheinlich einen Schreikrampf kriegen und in Ohnmacht fallen, mein Vater würde mich zusammenschlagen und mich die nächsten sechs Wochen, also die ganzen Sommerferien, nicht aus dem Haus lassen. Das jedenfalls hatte er letztes Jahr getan, als ich durchs Abi gerasselt war und wiederholen musste. Ich hatte es damals an seinen Augen abgelesen, am liebsten hätte er mich umgebracht. Auch jetzt wirkte er alles andere als glücklich und zufrieden damit, dass sein einziger Sohn das Abitur bestanden hatte, aber ich war es ja gewohnt, dass er enttäuscht von mir war. In seinen Augen war ich eben ein kompletter Versager, eine Null, eine Niete, zu nichts zu gebrauchen, einer, der ihm auf der Tasche saß, ihm sämtliche Nerven raubte und graue Haare bescherte. Dass er in meinen Augen ebenfalls ein Nichts war, weil er außer seinem Geld und seinem geliebten Job absolut nichts hatte ‒ keine Frau, keine Liebe, keine Freunde, gar nichts ‒, sagte ich ihm lieber nicht. Was hätte das auch gebracht?

      „Es ist mir unbegreiflich, wie es so weit kommen konnte“, bellte mein Vater jetzt und umklammerte sein Glas so fest, dass es zu zerspringen drohte.

      Die Lautstärke und Aggressivität in seiner Stimme ließen Frau Rabenstein erschrocken zusammenfahren. Sie machte einen Satz nach hinten, verschränkte schützend die Arme vor der Brust und musste sich sichtbar zwingen, nicht die Flucht zu ergreifen. Ich an ihrer Stelle hätte es getan. Ich an ihrer Stelle wäre längst auf und davon.

      „Ich meine, er ist letztes Jahr schon durchs Abitur gerasselt und jetzt sehen Sie sich diesen Mist doch mal an!“ Er hielt meiner Klassenlehrerin auffordernd mein Zeugnis hin, doch sie schüttelte abwehrend den Kopf.

      „Nicht nötig, ich habe es schließlich unterschrieben, Herr Waldoff, ich kenne die Noten Ihres Sohnes.“ Sie bemühte sich weiterhin um einen ruhigen Tonfall und warf mir einen raschen Blick zu.

      Ich schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln, sie sollte sich nichts daraus machen. Mein Vater brüllte mich immer an, dass mir fast die Ohren wegflogen, und seine Angestellten hatten panische Angst vor ihm, denn er war ein Choleriker, der mit Tischen und Stühlen schmiss, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Kein Wunder, dass meine Mutter vor Jahren das Weite gesucht hatte. Ich wünschte nur, sie hätte mich mitgenommen. Das hätte mein Leben leichter gemacht. Viel leichter.

      „Ach, ist ja toll, dass Sie Bescheid wissen. Hätten Sie mich nicht früher informieren können, dass mein Herr Sohn sich schon wieder einen faulen Lenz macht und total versagt?

      Dann wäre ich eingeschritten, hätte etwas unternommen. Ich hätte ihm schon beigebracht, wie man sich hinsetzt und lernt.“ Seine Augen sprühten Funken, er schrie mittlerweile fast und einige Leute starrten zu uns herüber. Olivia hatte den Blick abgewandt, war etwas von mir abgerückt, sah unbeteiligt umher und tat, als gehöre sie nicht zu mir, was sie leider prompt um einiges unattraktiver machte. Wenn ich ein Mädchen an meiner Seite hatte, musste es auch zu mir stehen, und zwar bedingungslos. Auch wenn mein Vater mich bloßstellte, indem er in die Welt hinausbrüllte, wie dumm ich doch sei, dass ich absolut nichts könne und vermutlich mal in der Gosse landen würde. Das Mädchen, das mit mir zusammen sein wollte, musste das aushalten. Leider hatte ich noch nie eines getroffen, das das konnte.

      Lars Steiger aus meiner Klasse grinste mich provokant an. Er stand einige Meter von mir entfernt, hatte den Arm um seine Freundin Melanie gelegt, die hässlich war wie die Nacht und in scheinbar unbeobachteten Momenten in der Nase bohrte, und genoss die ganze Szene sichtlich ‒ mein Vater als Stier, dem schon fast Rauch aus den Ohren quoll, und meine hilflose Klassenlehrerin, die verzweifelt versuchte, irgendwie aus dieser Nummer rauszukommen. Er grinste hämisch und ich zeigte ihm den Mittelfinger. Gott, wie sehr ich diesen Typen hasste! Um genau zu sein, konnte ich, mal abgesehen von Olivia, keinen aus der Klasse leiden. Sie waren alle so was von abgehoben, hielten sich für was Besseres. Gut, das tat ich auch, aber ich WAR schließlich auch cool. Diese Witzfiguren hingegen waren eigentlich arme Würstchen, die ihre Dummheit und Nutzlosigkeit hinter arroganten Mienen und herablassenden Sprüchen zu verbergen suchten.

      Während Lars mich blöd angrinste und ich dem Drang, hinzurennen und ihm kräftig eine zu ballern, nur mühsam widerstand, dachte ich daran, wie er mir zu Anfang des Schuljahrs in den Arsch gekrochen war und um meine Aufmerksamkeit gebuhlt hatte. Er hatte schließlich schon von mir gehört gehabt. Ich hatte den Ruf eines Mädchenschwarms und Herzensbrechers und natürlich den des coolsten Jungen der Stadt. Er wollte einen Teil meines Ruhmes abhaben und biederte sich auf absolut widerliche Weise an. Aber selbstverständlich hatte er keinen Erfolg damit. Niemand brauchte eine solche Witzfigur als Freund.

      „Herr Waldoff, Ihr Sohn ist 19“, zischte Frau Rabenstein, die nun ebenfalls wütend wurde.

      Oh Mann, der Abend lief echt aus dem Ruder, eigentlich wollte ich längst bei Simon sein, ein bisschen trinken, Joints rauchen und feiern, dass ich nie wieder dieses verhasste Schulgebäude betreten und meine ätzenden Mitschüler wiedersehen musste. Stattdessen stand ich immer noch hier auf dem Schulhof rum und alle gafften mich an, als hätte ich zwei Köpfe.

      „Es ist nicht mehr unsere Pflicht, die Eltern zu informieren, schließlich geht es Sie eigentlich nichts mehr an. Sie sind nicht mehr erziehungsberechtigt, Herr Waldoff, Ihr Sohn ist volljährig und damit vor dem Gesetz erwachsen. Welche Noten er schreibt, hat Sie also nicht zu interessieren.“

      Genau!


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