Seit ich dich kenne .... Jascha Alena Nell
aus dem Zimmer, wobei ich mich auf sie stützte, als wäre sie mein Krückstock, das Einzige, was mich auf den Beinen hielt. Und so war es auch.
Alles fühlte sich merkwürdig an. Irreal. War das gerade wirklich alles passiert? Und das, obwohl eigentlich gar nichts passiert war?
Ich hielt ganz still, während Edda auf der Toilette meine Wunden versorgte, so sanft und behutsam wie damals, als sie mich auf der Straße aufgelesen hatte. In ihren Augen konnte ich keinerlei Enttäuschung oder Vorwurf sehen, sondern einfach nur Besorgnis. Um mich und meinen Gesundheitszustand. Sanft wischte sie mir das Blut von der Nase und den Lippen, brachte mich dazu, mir den Mund auszuspülen, und kühlte meinen Wangenknochen, der stark schmerzte. In meiner Nase prickelte es.
„Ich hab nicht mit ihr geschlafen, Ed“, murmelte ich schwach, während mein Kopf gegen die kühlen Fliesen in meinem Rücken sank. „Ich schwöre dir bei allem, was mir lieb ist, wir hatten keinen Sex.“
„Schsch, schon gut. Ich glaube dir“, sagte sie tröstend, ging vor mir in die Hocke und legte ihre Hände auf meine Knie. „Aber, Chris, was hast du dir nur dabei gedacht?“
„Nichts“, ächzte ich, „ich hab gar nichts gedacht. Ich war nur stinksauer auf Laura, weil sie Sophia und mich bei Luke rangehängt hat.“
„Und da dachtest du, du würgst ihr schön eins rein, indem du ihre Cousine flachlegst?“ Nun klang sie doch vorwurfsvoll, sah mich kopfschüttelnd an. „Der arme Marvin ist völlig am Ende. Er konnte es nicht fassen, als Lennart, Janas Vater, beim Portier nach dem Verbleib seiner Tochter fragte und der sagte, dass sie vor einer knappen halben Stunde mit dir in der Hochzeitssuite verschwunden sei ‒ angeblich wegen einer Überraschung.“ Sie rollte mit den Augen. „Ich hab mir schon gedacht, dass das nur ’ne Ausrede war. Laura war sofort auf 180, Lydia hatte einen halben Herzinfarkt, nur Marvin hat fest dran geglaubt, dass ihr wirklich eine Überraschung vorbereitet, und wollte die Masse sogar daran hindern, das Zimmer zu stürmen. Er meinte, so was würdest du niemals tun.“
Das schlechte Gewissen war kaum auszuhalten.
Niedergeschlagen und wie ein geprügelter Hund hockte ich zusammengesackt auf dem Toilettendeckel, meine Augen brannten mit einem Mal. „Ich hab richtig Mist gebaut, oder?“
„Nun ... ja“, meinte Edda schonungslos wie immer und klopfte mir aufmunternd auf die Knie. „Marvin ist total verletzt und schockiert, Laura ist am Ende mit den Nerven, aber wenn du dich jetzt gleich bei den beiden entschuldigst, wenn du mit Marvin redest, vielleicht ... hm, vielleicht versöhnt ihr euch dann wieder.“
„Meinst du?“ Hoffnungsvoll blickte ich auf. Edda zuckte verzagt mit den Schultern. Ich griff nach ihrer Hand. „Würdest du mir denn verzeihen? Wenn ich an deinem Hochzeitstag mit irgendeiner Fremden, der Cousine deines Mannes, in deinem Hochzeitsbett fast Sex hätte?“
Sie legte den Kopf etwas schief, sah mich nachdenklich an. Plötzlich streckte sie die Hand aus, glitt damit sanft durch mein Haar, pflückte ein Rosenblatt heraus und drehte es zwischen den Fingern. „Ich wäre so was von sauer auf dich“, meinte sie langsam.
„Zu Recht“, murmelte ich.
„Und ... keine Ahnung, vielleicht würde ich dich sogar hassen. Im ersten Moment. Für die erste Zeit. Ich könnte mir vorstellen, dass ich nie wieder mit dir reden wollen würde. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich irgendwann erkennen würde, dass du einfach nur ein Hitzkopf bist, der eingeschnappt war und übers Ziel hinausgeschossen ist.“ Sie schluckte und ich sah Tränen in ihren Augen.
Ich drückte ihre Hand fester, biss mir auf die Unterlippe, weil auch mir nun zum Heulen zumute war, was wirklich extrem peinlich war.
„Ich würde dich so sehr vermissen, dass ich es gar nicht aushalten könnte, für immer ohne dich zu sein. Du bist zwar manchmal nervig und ein Schwein, Waldoff, aber wenn’s drauf ankommt, bist du immer da. Dann kann man auf dich zählen.“
„Ach, Ed.“ Ich zog sie in meine Arme, vergrub meine Nase in ihrem Haar. „Du bist diejenige, die immer da ist, wenn ich sie brauche. Du warst schon damals für mich da, als du mich auf der Straße aufgelesen und bei dir aufgenommen hast. Ab diesem Zeitpunkt warst du eigentlich die beste Freundin, die ich je hatte.“ Ich streichelte ihr übers Haar. „Du bist was ganz Besonderes, Edda, hat dir das schon mal jemand gesagt?“
„Ja, Waldoff, das höre ich ständig ...“
Sie schluchzte trocken auf und ich gratulierte mir im Stillen: „Toll, Waldoff, jetzt hast du auch noch deine beste Freundin zum Weinen gebracht. Glückwunsch, du Pfeife!“
Sie löste sich von mir, wischte sich über die Augen. Sie schien gerührt zu sein. Ihr Blick war liebevoll. „Du solltest mit Marvin reden, Chris. Vielleicht ist noch was zu retten, je früher du ihn suchst, desto besser.“
„Du hast recht.“ Ich nickte, blinzelte die Tränen weg und stand wankend auf. Zögernd sah ich sie an. „Kommst du mit mir? Damit mich nicht wieder irgendjemand zusammenschlägt?“
Sie lächelte schief. „Sicher.“ Sie hakte sich bei mir unter und zusammen stellten wir uns der aufgebrachten Hochzeitsgesellschaft.
Es schien so, als hätte jeder mitbekommen, was auf dem Hotelzimmer passiert war. Ich spürte stechende Blicke im Rücken, ich prallte gegen Wände aus Abneigung, Argwohn und Zorn, die Leute tuschelten hinter vorgehaltener Hand oder äußerten sich lautstark ‒ und keineswegs positiv.
„Unglaublich, wie kann man nur so ein Arschloch sein?“
„Das arme Mädchen war völlig aufgelöst! Was meinst du, ob er sie im Zimmer überrumpelt hat?“
„Laura ist am Ende mit ihrer Kraft. Erst sprengt er fast die Trauung und kommt nicht und dann so was!“
„Keinen Funken Anstand im Leib! Wäre ich seine Mutter, ich würde mich in Grund und Boden schämen.“
Zum ersten Mal seit Langem war ich froh, dass Mama und ich keinen Kontakt hatten. Sie würde das nicht verstehen. Sie müsste sich wirklich für mich schämen.
Ich bekam pochende Kopfschmerzen, meine Augen brannten, meine Lippe schwoll merklich an und kribbelte unangenehm, mein Wangenknochen pulsierte. Ich bemühte mich nach Kräften, all diese Leute zu ignorieren, aber es fiel mir verdammt schwer. Mein Ansehen hatte einen kräftigen Dämpfer bekommen. Wenn Joachim das rausbekam, war ich geliefert. Aber erst mal zählte nur Marvin. Wo steckte er?
Kurz erhaschte ich einen Blick auf Pia, das Mädchen, das dank mir zur Vegetarierin geworden war. Ich lächelte ihr zu, doch sie funkelte mich nur böse an, Enttäuschung zeichnete ihr Gesicht. Dann drehte sie sich weg. Ich ließ den Kopf hängen und hoffte, dass sie trotz allem weiterhin Vegetarierin blieb.
„Schau, da drüben sind sie.“ Ich reckte den Hals und mein Herz setzte einen Schlag aus. Da standen sie alle. Marvin hielt Laura im Arm, deren Schultern bebten. Sie weinte immer noch. Lydia stand neben ihr, fuchtelte mit den Händen in der Luft herum und redete mit überschnappender Stimme auf Janas Vater und ihren Mann Holger ein. Auch Amanda, Layla, Sophia und Luke waren dabei und machten ernste Gesichter. Ich straffte die Schultern, als wir uns der Gruppe näherten. Lydia entdeckte uns zuerst und ihre Augen sprühten Funken. Sie schoss auf uns zu wie ein tollwütiger Hund. „Wage es ja nicht!“, schrie sie mich an. „Wage es ja nicht, meiner Tochter oder irgendjemandem aus meiner Familie jemals wieder zu nahe zu kommen! Ich kann es nicht fassen, diese Schmach ... Ist dir eigentlich klar, was du meiner Laura angetan hast? Und meiner Nichte Jana?“
„Erstens habe ich Jana gar nichts getan“, antwortete ich emotionslos, „alles, was zwischen uns passiert ist, war von ihr gewollt. Zweitens will ich mit Marvin reden, von Ihrer Sippe will ich nichts. Und drittens sollte Ihre Laura lieber mal darüber nachdenken, was sie anderen Leuten antut, wenn sie ihren Mund aufmacht und irgendeinen Scheiß verzapft.“
„Wie kannst du es wagen?“, kreischte Lydia und hob die Hand zum Schlag, doch Edda warf sich dazwischen und fing ihren Arm ab.
„Stopp!“,