Second Horizon. E.F. v. Hainwald

Second Horizon - E.F. v. Hainwald


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      »Nicht alles so ernst nehmen!«, rief sie gut gelaunt, hauchte ihm einen Handkuss zu und lief dann mit langen, federnden Schritten weiter.

      Sie schlängelte sich durch die Leute, rempelte ein paar überstylte Mädels mit quietschbunten Haaren zur Seite und duckte sich unter zu tief fliegenden Fahrzeugen hindurch. Nachdem sie in eine schmale Nische gebogen war, wurde es ruhiger.

      Die Wände waren mit bunten Bildern bemalt, manche von ihnen wölbten sich durch einfache Magie plastisch nach vorn. Der Weg verwandelte sich in eine flach abfallende Rampe und schließlich zu einer steilen Treppe. An den Seiten befanden sich schmale Türen, welche zu obskuren Kramläden, vollgestopften Mini-Märkten und magischen Ateliers führten.

      Neben einem Trödelladen für ausgediente Fragmente von Schwarmtechnologie befand sich eine Illuthek. Durch die biodigitale Vernetzung des Nervensystems mit einem cybermagischen Runenkern wurden real wirkende Erfahrungen erzeugt. Jedes Gefühl, jedes Erlebnis, jeder Wunsch ließ sich damit simulieren. Im Eingang und auf der Treppe lagen die Realitätsflüchtenden und starrten mit leeren Augen und einem weltfremden Lächeln in den Himmel.

      Sind wieder alle in ihrem hübschen, selbst gewählten Gefängnis, stellte Babe naserümpfend fest. Solange es sich gut anfühlt, ist alles recht.

      Mit ihren ersten Schritten versuchte sie noch zwischen die entrückten Junkies zu treten, aber nach einem kurzen Moment stampfte sie einfach rücksichtslos auf Arme und Beine – sie fühlten eh nur, was die Maschine ihnen zum Fraß vorwarf. Vielleicht versetzte sie ja beim Aufwachen ein blauer Fleck in ungeahntes Staunen über die Realität.

      Ein paar Etagen und drei Musiktracks später, zeigte das hysterische Lichtgeflimmer eines freischwebenden Kreuzes ihr Ziel an: eine Apotheke, gleich unter einem Bio-Modulgeschäft, in dem man alle Arten von Mensch-Maschine-Magie-Schnittstellen finden konnte.

      Sie lag in einer steil abfallenden Nebenstraße. Von dem oberen Absatz aus konnte man einen schmalen Blick auf die Senke erhaschen, in der sich die Megacity Neo-Lhasa über mehrere Berghänge ausbreitete wie ein Geschwür.

      Die wuchtigen Megaplexe warfen riesige, ganze Stadtteile abdunkelnde Schatten. Diese gigantischen Würfel waren quasi eine Stadt in der Stadt. Darin fand sich alles, was man so brauchte, abgeschlossen in einem einzigen System. Die perfekte Umwelt für perfekte Menschen – im Sinne des weltumspannenden Erd-Kombinats verstand sich.

      Der resultierende Fortschritt war herausragend, wie unter anderem die gigantischen Rampen für die interstellaren Raumschiffe zeigten. Sie waren so groß wie ganze Gebirgsketten. Dort ballerte man regelmäßig Raum-Archen mittels riesiger Magnetspulen wie ein Gauß Geschoss in die Umlaufbahn.

      Die schillernden Kanten der perfekten Gebäude im Abendlicht, die wolkenverhangene stellare Rampe am Horizont, die Weite der Zivilisation … all das übte auf sie kaum einen Reiz aus.

      Sie schaute wieder auf die Vielfalt, welche um sie herum auf dem Fabrikdach zu finden war. Hier lebten die platzverschwendenden, konfliktverursachenden, unbequemen Individualisten. War der Schwarm eine gleichförmige, sichere Abstufung von Grautönen, so waren diese ein unberechenbares, gefährliches Kaleidoskop. Sie waren Dickköpfe, Freidenker, Idioten und Visionäre. Sie wollten zu viel und schufen zu wenig. Etwas tun, was jemand anderes wollte, kam nur infrage, wenn man selbst etwas davon hatte.

      Jetzt sollte man davon ausgehen, dass sich diese beiden gegensätzlichen Fraktionen naturgemäß bis aufs Blut bekämpfen würden. Doch das Gegenteil war der Fall: Man kam großartig miteinander aus, denn Gleichmachen bedeutete Zerfall und Degeneration. Eine Lektion, welche die Menschheit erst nach Jahrtausenden verschiedener Hochzivilisationen gelernt hatte.

      Die Individualisten taten was sie wollten und lieferten dabei manchmal einen Funken neuen Denkens, der den Fortschritt beflügelte. Der Schwarm konnte den Fortschritt geplant umsetzen. Die Menschen wählten ihre bevorzugte Lebensart mit allen Vor- und Nachteilen. Die jeweiligen Gesellschaften regelten sich selbst, man mischte sich nicht ein. Eine Win-Win-Situation.

      Babe mochte es, auf der Gewinnerseite zu stehen. Sie ging zur Apotheke und schlenderte durch deren Eingang. Die Runen über dem Türsturz flammten auf und es ertönte ein schrilles Klingeln.

      »Ist ja gut, meine Güte«, murrte sie genervt und zog die Kopfhörer von den Ohren.

      Eine schlanke Frau jenseits des siebzigsten Lebensjahrzehnts – also kurz vor Babes subjektiv geschätzter Verwesungsgrenze eines Menschen – drehte sich von einem der Regale um. Ihr dünnes, silbernes Haar war raspelkurz und stand wirr in alle Richtungen ab. Zwei lange, saphirblaue Ohrringe flimmerten magisch an ihren Ohrläppchen. Statt dem zu erwartenden Apothekerkittel trug sie einen feminin geschnittenen Anzug mit Krawatte. Sie stand kerzengerade und das kurze Kribbeln von Magie zuckte durch Babes Knochen. Der düstere Ausdruck der Frau wich einem gutmütigen Lächeln, welches ihr Gesicht in eine überraschend attraktive Landschaft aus Falten verwandelte.

      »Ach, du bist es nur«, entgegnete sie und stieß erleichtert den Atem aus.

      »Du solltest die Verzauberung mal modifizieren. Mir klingeln jedes Mal die Ohren von dem Geschepper«, erwiderte Babe und bohrte sich demonstrativ mit dem Zeigefinger im linken Ohr.

      »So hochgepushte Leutchen wie du wollen meist teure Medikamente und diese nur mit Ärger bezahlen. Da bin ich gern vorgewarnt«, erklärte die Apothekerin geduldig.

      Medizinische Versorgung in angemessenem Rahmen stand nur Mitgliedern des Schwarms zu, immerhin erhielt es ihre Arbeitskraft – Leistung gegen Leistung. Die freien Individualisten hatten zu bezahlen – Geld gegen Ware. Apotheken oder gar Kliniken waren hochwirtschaftliche Unternehmen.

      »Ich frag mich, wie sich so 'ne Oma dagegen wehren kann«, meinte Babe und nickte dann in Richtung Verkaufstheke. »Zumindest, wenn nicht gerade felliger Besuch im Hause ist.«

      Wolf saß mit dem Rücken zu ihr gewandt auf der Theke. Er reagierte nicht. Sein Schwert lag offen neben ihm und die Transistorlinien auf der Klinge schimmerten im hereinfallenden Licht der schmalen Oberlichter. Sein Schwanz schwenkte gelassen nach links und rechts.

      Wenn man erst mal weiß, wo er sich wohlfühlt, ist es geradezu lächerlich einfach, ihn zu finden, dachte Babe schmunzelnd.

      »Keine Sorge, es kommen öfter Leute deiner Art hier herein. Ich weiß, wie man mit euch umgeht«, sprach die Apothekerin selbstsicher.

      »Das bezweifle ich«, murmelte Babe leise vor sich hin und schlich durch den Verkaufsraum.

      Sie trat neben Wolf an die Theke und ein Ohr drehte sich in ihre Richtung. Er hatte sie natürlich längst bemerkt. Dennoch widmete er ihr keine Aufmerksamkeit. Babe stützte sich mit den Ellbogen auf der zerkratzten Platte ab, legte ihr Kinn zwischen die Hände und beobachtete ihn neugierig.

      Wolf saß vornübergebeugt und seine Beine baumelten lässig über der Kante. Seine Zungenspitze klemmte zwischen den Fangzähnen und ragte aus dem Maul. Er presste hoch konzentriert die Kiefer zusammen. Er starrte auf seine Pranken, welche in Nasenhöhe an einem zerfledderten Stück Stoff herumfummelten. Erst als Babe ein wenig den Hals reckte, konnte sie erkennen, dass er zwischen zwei Fingern eine Nähnadel hielt. Ganz vorsichtig, beinahe meditativ, bearbeitete er damit das Kleidungsstück.

      Babe wusste, dass er viele Sachen umnähen musste, weil die Proportionen seines Körperbaus nicht ganz dem eines Menschen entsprachen. Sicherlich könnte es ihm auch egal sein. Doch Wolf hatte Babe bei diesem Einwurf mit den Worten angeschnauzt, dass er dann wie ein Struppi im Gemüsesack aussehen würde – wobei sie dann dagegen gehalten hatte, dass so etwas vermutlich ziemlich niedlich wäre. Das daraufhin geknurrte EBEN! hatte diese Diskussion beendet.

      Wobei man nicht umhinkommt, ihn bei dieser Tätigkeit tätscheln und mit »Guter Junge« loben zu wollen, dachte Babe, war jedoch klug genug, es unausgesprochen zu lassen und ihn auch nicht bei seiner Beschäftigung zu stören.

      Sie drehte sich um, lehnte sich an die Theke und beobachtete die Apothekerin bei der Arbeit. Es herrschte reger Kundenverkehr an diesem Ort. Kein Wunder, krank oder verletzt wurde man ja schon seit Jahrtausenden. Zwar schritt die Medizin voran, doch neue Heilungsmethoden


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