Second Horizon. E.F. v. Hainwald
Ihr Fuß wippte im Takt zur kratzigen Musik, welche bis zu ihren Ohren drang. Schließlich zuckte sie mit den Schultern und antwortete knapp:
»Wolf ist verlässlich.«
Tonies Projektion schürzte missbilligend die Lippen. Die Gesichtszüge waren starr und verrieten nichts. Das erste Zusammentreffen von Wolf und dem Schwärmer war scheinbar nicht besonders herzlich gewesen – dennoch war sich Babe sicher, dass die beiden gut zusammenarbeiten würden. Ihre Ziele waren unterschiedlich, ihre Charaktere noch viel mehr. Was sie vereinte, waren persönliche Beweggründe – das war ihrer Meinung nach mehr wert, als irgendein leeres Geschwafel von Loyalität.
Abgesehen davon, war Tonie herausragend. Der Schwärmer schaffte es unbemerkt eine arkane Kopie zu transferieren – und er saß dabei mitten im Herzen Neo-Lhasas! Die Schutzmechanismen des Schwarms waren technisch und magisch auf dem höchsten Stand. Babe vermutete, dass er irgendwie die Leylinien der Erde anzapfte, um die erforderliche Kraft zu fokussieren. Diese natürlichen Energiemeridiane waren schon seit vielen Zivilisationen die Grundlage für Magie und Kultur. Wenn jemand die Systeme hacken konnte, dann Tonie.
Doch noch war es nicht soweit.
Daher trafen sie sich hier im Industriesektor der Stadt. Die klare Abtrennung von Wohnungsgebiet, Gewerbe, Industrie, Forschung und Magiekanalisierung sorgte in Neo-Lhasa für Effizienz und Komfort. Es gab hier nur eine prall gefüllte, monumentale Hülle aus Beton, Carbon und Metalllegierungen.
Er lag genau zwischen der Stadt und diente zur Hälfte als Fundament der Indie-Siedlung. Hier unten gab es so gut wie keine Menschen auf den Straßen. Wobei das eher eine dürftige Umschreibung für die breiten Flächen war, welche die wuchtigen, kubischen Produktionsgebäude durchschnitten.
Babe und Tonie liefen zum vereinbarten Treffpunkt. Der Keramikbetonboden unter ihren Füßen war rissig, dennoch so glatt wie der Hintern eines Neugeborenen. Tonnenschwere Transportfahrzeuge mit automatischen Lenksystemen rollten an ihnen vorbei. Das Vibrieren ließ Babes Beine so heftig schlottern, als stünde sie ihrem schlimmsten Albtraum gegenüber. Ihre magische Begleitung bemerkte das natürlich nicht. Vermutlich saß Tonie bequem zuhause auf dem Sofa und genehmigte sich genüsslich einen eiskalten Drink, während das Abbild hier verweilte.
Als sich hinter einem Wust aus Rohren der Umriss eines monströsen Wesens herausschälte, flackerte die Illusion.
»Verdammtes Ding«, zischte Tonie. »Ich muss mich kurz neu anpassen.«
Damit war Babe wieder allein.
Die Kreatur glänzte fahl im Sonnenlicht. Gigantische Gliedmaßen waren in einer Laufbewegung eingefroren. Der schuppenbedeckte Körper wirkte jedoch so lebendig wie eh und je. Ein einzelnes Horn ragte aus der Stirn des breiten Schädels. Wut war für alle Zeiten in dessen faltiges Antlitz eingebrannt und schwarze Augen schimmerten vor wilder Raserei.
Dieses Vieh war eines der Resultate vorheriger Zivilisationen – zumindest vermutete man das. Es könnte genauso gut natürlichen Ursprungs sein. Allerdings wagte niemand, es genauer herauszufinden – auch nicht, wenn die Magie, welche es im Zaum hielt, atemberaubende Macht versprach.
Die Stasis des Kolosses war Magiern und Forschern ein Rätsel. Es gab Theorien, welche besagten, dass dieses Wesen in der Zeit eingefroren wäre. Manche vermuteten, man hätte seine Seele in eine Parallelwelt gesperrt. Andere wiederum mutmaßten, dass die Engel ihm schlicht befohlen hatten hier zu verharren, bis sie es riefen, um erneut Tod und Zerstörung über die Welt zu bringen.
Babe hielt Abstand. Sie konnte die Macht in ihren magiedurchdrungenen Knochen fühlen. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie manchmal nebelhaft Zeichen aufflackern sehen. Sie waren keinesfalls die bekannten, scharfgeschnittenen Runen. Ihre Formen waren organisch, kannten keine gerade Linie oder Trennung voneinander.
»So, das wär‘s«, vernahm sie erneut Tonies Stimme. »Die Fluktuationen in der Materie sind verdammt anstrengend.«
»Ein guter Ort für einen Plausch, oder?«, merkte Babe an und breitete die Arme aus, als würde das Monstrum zum Verkauf stehen. »Nervig, hier zu überwachen, weil man ständig neu kalibrieren muss.«
»Deswegen stehen hier drumherum auch keine Fertigungsanlagen. Trotzdem will man das Ding im Auge haben, also wurde es in Neo-Lhasa eben integriert«, erklärte Tonie. »Abgesehen davon, ist das Ding eben sehr ... faszinierend.«
»Eher sehr gefährlich«, seufzte Babe und schnalzte mit der Zunge. »Ich bin dafür, dass sie das Ding in handliche Bröckchen zertrümmern. Könnte man dann noch an Labore verscheppern – oder Touristen. Ja, Touristen kaufen jeden Mist.«
»Haben sie versucht«, entgegnete Tonie naserümpfend.
»Ach?« Babe hob eine Augenbraue. »Das mit den Touristen?«
»Sollte gesprengt werden. War 'ne blöde Idee«, erhielt sie zur Antwort, jedoch keinerlei Erklärung dazu. »Magie macht die Welt nicht zu einem besseren Ort.«
»Was sollte denn dieser theatralische Spruch?«, fragte Babe kichernd. »Du wirst doch jetzt nicht etwa tiefsinnig?«
»Magie ist nur ein Werkzeug wie Technik und Wissen. Sie ist weder gut noch schlecht«, fuhr die Projektion unbeirrt fort, während sie das eingefrorene Wesen musterte.
Babe zuckte nur mit den Schultern und fuhr sich mit der Hand durch ihr Haar. Tonies rundes Gesicht zeigte plötzlich echte Heiterkeit.
»Sie macht die Welt aber aufregend!«, ergänzte sie.
»Hah!«, rief Babe lachend aus. »Das Leben macht die Welt aufregend.«
Und wo wir gerade beim Thema sind, da kommt das Paradebeispiel dafür, stellte sie gedanklich fest, als sie die Straße hinabblickte.
Dort schoss Wolf auf einem Slide-Board mit halsbrecherischer Geschwindigkeit an einem Transporter vorbei. Er hielt das fliegende Brettchen eisern in der Spur. Die automatische Steuerung des entgegenkommenden Fahrzeugs war jedoch zu träge, um ihm rechtzeitig auszuweichen. Also beugte er sich zur Seite, packte sein Board am Rand und zog es im rechten Winkel an die Wand. Haarscharf raste der Transporter an ihm vorbei. Breit grinsend, sodass seine spitzen Reißzähne im Sonnenlicht aufblitzten wie eine Perlenkette, schlitterte er so noch ein Stück weiter, ehe die abebbende Fliehkraft sein Board wieder auf die Straße zwang.
Wolf ging in die Knie und zog einen höllisch scharfen Bogen um Babe und Tonie, sodass seine Schulter fast den Straßenbelag berührte. Dadurch bremste das Board hart ab. Er packte es lässig mit einer Pranke, während er absprang.
Babe pfiff anerkennend. Wolf war immer auf der Suche nach einem Moment aufregender Freiheit. Sie mochte diese Seite an ihm besonders – gleich nach seinem weichen Fell, verstand sich.
»Hübsches Manöver«, lobte sie ihn und zog ihre Sonnenbrille von der Nase. »Wenn ich‘s nicht besser wüsste, würde ich glatt behaupten, du wolltest uns beeindrucken, wie ein halb nackter Beachboy mit tief sitzender Hose.«
Wolf legte sich das Board hinter den Nacken, hakte seine Unterarme dahinter ein und zuckte mit den Schultern.
»Weiß nicht«, erwiderte er schmunzelnd und nickte Tonie zu. »Kann sein, sie will mich wieder nackt sehen.«
»Nein, er will das nicht«, antwortete Tonie, das Pronomen betonend. »Frag gefälligst vorher, wie du mich nennen darfst.«
»'tschuldigung«, murmelte Wolf und verzog das Gesicht. »Letztes Mal…«
»Frag«, schnitt er ihm das Wort ab und rollte mit den Augen. »Abgesehen davon glaube ich, dass du dich vor unserem Einsatz gern umbringen möchtest, damit du dich drücken kannst. Kein Wunder, dass ihr Indies vom Schwarm als destabilisierend betrachtet werdet. Minimale Effizienz bei maximalem Risiko.«
»Also ich fand, ich war höchst effizient dabei, meinen Spaß zu haben«, entgegnete Wolf amüsiert und bleckte die Zähne. Sein Schwanz schwenkte gelassen hin und her.
»Wo er recht hat …«, stimmte Babe zu, hob ihre schmale Hand und Wolf klatschte mit seiner breiten Pranke mit ihr ab.
»Perspektive«,