Verjagt von Haus und Hof. Roswitha Gruber

Verjagt von Haus und Hof - Roswitha Gruber


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zu ein Huhn im Topf. Anfang 1944 begann deine Großmutter zu kränkeln. Es war ihr immer wieder schlecht, und sie klagte über Leibschmerzen. Die junge Ärztin, die wir schließlich kommen ließen – die erfahrenen Doktoren waren ja alle eingezogen –, behandelte Traudl einige Tage auf Magenverstimmung. Bis sie endlich erkannte, dass meine Frau einen eingeklemmten Leistenbruch hatte, war es bereits zu spät. Man sagte, der Brand sei hineingekommen. Wenige Stunden später war meine geliebte Frau tot. Sie wurde nur einundvierzig Jahre alt. Rosina, deine Mutter, war erst siebzehn, als das Unglück über uns hereinbrach. Nach der mittleren Reife hatte sie eine Lehre beim Landratsamt in Starnberg begonnen. Auf meine schriftliche Bitte hin entließ man sie aus dem Lehrverhältnis, damit sie für mich und ihre beiden jüngeren Geschwister sorgen konnte. Es war ganz erstaunlich, wie schnell Rosina den Haushalt im Griff hatte. Sie ermöglichte es Klara sogar, nach der Mittleren Reife eine Ausbildung bei der Post zu machen. Auch erkannte sie sehr bald die künstlerische Begabung ihres Bruders und setzte sich dafür ein, dass er in der Zweigstelle eines namhaften Porzellanherstellers unterkam. Dort machte er eine Lehre als Porzellanmaler. Aufgrund seiner Tüchtigkeit wurde er nach der Gesellenprüfung von dem Betrieb übernommen und verdient dort gutes Geld.«

      Opas Bericht hatte mich stark beeindruckt, nicht nur wegen seiner romantischen Liebesgeschichte. Vor allem das Wort »Einheiraten« war es, das auf mich einen nachhaltigen Eindruck machte. Wenn der Opa in das feine Haus des königlichen Rechtsanwalts hatte einheiraten können, dann konnte ich vielleicht eines Tages in einen Bauernhof einheiraten. Als Erstes fiel mir natürlich der Hof jenseits des Baches ein, wo meine Freundin Nanni zu Hause war. Der würde mir schon gefallen. Doch dieser erwies sich als aussichtsloser Fall. Nanni hatte zwar einen Bruder, aber der war sechseinhalb Jahre jünger als ich, der würde noch ein Kind sein, wenn ich ins heiratsfähige Alter kam. Ich musste also Augen und Ohren offen halten, um einen Bauernsohn in passendem Alter zu finden, der mir eine Einheirat bieten konnte.

      Im April 1957 war meine Mutter vom Einkaufen mit einer Neuigkeit nach Hause gekommen, von der sie beim Nachtessen ganz aufgeregt berichtete: »Stellt euch vor, die Gemeinde sucht Quartiere für Sommerfrischler.«

      »Woher weißt du das?«, erkundigte sich ihr Vater.

      »An der Gemeindetafel hängt ein entsprechender Anschlag.«

      »Und was geht das uns an?«, fragte ihr Bruder.

      »Wir könnten doch Zimmer vermieten, dann hätten wir eine schöne zusätzliche Einnahme.«

      »Und welche Zimmer?«, wollte ihre Schwester wissen. »So viel ich weiß, steht in unserem Haus kein einziges Zimmer leer.«

      »Wir müssten halt zusammenrücken, dann ließe sich das eine oder andere Zimmer vermieten.«

      »Für wie lange soll denn das sein?«, mischte sich ihr Bruder wieder ins Gespräch.

      »Auf dem Anschlag steht, man könne die Zimmer von Anfang Mai bis Ende Oktober vermieten.«

      »Ui, das wäre fast ein halbes Jahr«, konstatierte Onkel Ludwig. »Und wie viel Geld gibt’s dafür?«

      »Da stand etwas von sieben Mark pro Person und Nacht.«

      Sogleich suchte sich der Onkel Zettel und Bleistift und begann zu rechnen, dann verkündete er: »Vorausgesetzt, wir könnten ein Bett durchgehend vermieten, dann wären das hundertachtzig Tage. Das macht mal sieben 1.260 Mark aus. Wenn wir vier Betten vermieten könnten, rechnen wir das Ganze mal vier, das wären 5.040 Mark. Eine stolze Summe! Damit ließe sich was anfangen. Also ich bin dabei. Wenn ich von den Einnahmen etwas abbekomme, stelle ich meine Kammer zur Verfügung.«

      »Und wo willst du schlafen?«, sorgte sich Klara.

      »Auf dem Dachboden«, kam die prompte Antwort. »Da ist doch Platz genug. Und ein paar alte Matratzen und Decken liegen da auch noch rum.«

      Nun war auch Klara bereit, für ein bisschen Beteiligung an den Einkünften ihr Zimmer für ein halbes Jahr zu opfern. Die Mama hatte eh schon in Gedanken ihr Doppelzimmer, in dem sie mit mir schlief, für die Gäste geräumt. Noch ehe ich einen Einwand erheben konnte, versprach sie mir von den Einnahmen eine Tafel Schokolade.

      Nun wollte Opa nicht nachstehen. Um ebenfalls etwas zur Erweiterung des Familieneinkommens beizutragen, erklärte er sich bereit, sein Doppelzimmer den Sommerfrischlern zur Verfügung zu stellen und für diese Zeit ins Einzelzimmer seines Sohnes zu ziehen. Da begann Ludwig wieder zu rechnen: »Wenn wir zwei Doppelzimmer und ein Einzelzimmer vermieten, sind das insgesamt fünf Betten, also können wir zu der Summe noch mal 1.260 Mark hinzuzählen. Somit kämen wir auf 6.300 Mark im halben Jahr.«

      Doch Mama bremste seinen Optimismus etwas: »So viel nehmen wir nicht wirklich ein. Du darfst nicht vergessen, davon geht einiges fürs Frühstück drauf und einiges für die Wäsche. Hinzu kommt, bevor wir mit Verdienen loslegen, müssen wir erst mal einiges investieren. Wir brauchen zusätzliche Bettwäsche. Denn die unsere reicht gerade mal für uns, zudem weist sie schon leichte Verschleißerscheinungen auf. So etwas kann man den Gästen nicht anbieten. Neue Frotteehandtücher brauchen wir ebenfalls und natürlich eine Waschmaschine. So viel Wäsche kann ich nämlich nicht von Hand waschen.«

      Nun ja, nachdem sich alle einig waren, meldete meine Mutter bei der Gemeindeverwaltung zwei Doppelzimmer und ein Einzelzimmer an. Schon nach wenigen Tagen bekamen wir Anmeldungen für alle Betten, zunächst für drei Wochen. Das bedeutete, dass wir Anfang Mai auf den Dachboden zogen und Opa in Ludwigs Kammer umzog. Das Schlafen auf dem Dachboden fand ich ganz lustig.

      In den ersten Wochen machten nur ältere Herrschaften bei uns Urlaub, solche, die nicht auf die Schulferien angewiesen waren. Das einzig Unangenehme an der »Hausbesetzung« war, dass sie allmorgendlich unseren Frühstückstisch belagerten und die besten Sachen vorgesetzt bekamen, wie Wurst, Käse und Schinken. Ich dagegen musste warten bis sie fertig waren, und bekam noch nicht mal die Reste vorgesetzt. Diese hob Mama im Kühlschrank auf, den sie auch eigens für die Sommerfrischler angeschafft hatte, um sie ihnen anderntags wieder vorzusetzen. Im Übrigen störten die Gäste nicht. Sie unternahmen jeden Tag lange Wanderungen, von denen sie am Abend schwärmten.

      Nach drei Wochen war Bettenwechsel. Ab da wurde es interessant für mich. In den ersten Bundesländern hatten nämlich die Sommerferien begonnen. Nun kamen also Leute mit Schulkindern. Die waren zwar etwas älter als ich, trotzdem konnte ich mit ihnen spielen. Holländer kamen auch zu uns. Obwohl sie so komisch sprachen, konnten wir Kinder uns bald verständigen. Alle zwei oder drei Wochen wechselten unsere Gäste. Ab September waren es dann wieder ältere Personen, die bei uns Erholung suchten. Das waren alles Leute aus dem Flachland. Sie waren nicht nur von unseren Bergen entzückt, sondern auch vom Starnberger See, an dem sie mit Begeisterung auf den Spuren des unglückseligen Königs wandelten.

      Ende Oktober durften wir wieder zurück in unsere Betten. Im Jahr darauf ging es im Mai wieder los mit Vermieten. Wieder hieß es für uns: umziehen auf den Dachboden.

      Im Juli herrschte zusätzlich große Hektik bei uns im Haus. Obwohl es voller Urlaubsgäste war, galt es, eine Hochzeit auszurichten. Meine Tante Klara, Mamas Schwester, hatte doch noch einen Hochzeiter gefunden, womit schon niemand mehr gerechnet hatte, weil sie bereits siebenundzwanzig war. Ihr Bräutigam war der um fünf Jahre jüngere Erich, ein Kollege von Onkel Ludwig.

      Aus Anlass dieser Hochzeit sollte ich ein Gedichtchen vortragen. Tagelang hatte die Mama es mir wieder und wieder vorgelesen, und ich hatte es nachgeplappert, bis ich es fehlerfrei aufsagen konnte. Als Sechsjährige hatte ich keine Ahnung, was ich da herunterleierte:

      »Ich will dir einen Glückwunsch sagen,

      Dir unsrer lieben jungen Braut.

      Es hat ihn mir mit ernsten Augen

      Die liebe Mutter anvertraut.

      Ich wünsch dir allen Glückes Rosen,

      und wachsen Leides Dornen dran,

      So bleibe stark und blick nach oben,

      Was Gott tut, das ist wohlgetan.«

      Nach der kirchlichen Trauung


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