Verjagt von Haus und Hof. Roswitha Gruber

Verjagt von Haus und Hof - Roswitha Gruber


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gehende Praxis. Seine Frau Notburga brachte 1862 einen Sohn zur Welt. Sie gaben ihm den Namen Ludwig, weil der damalige bayerische Kronprinz ebenso hieß. Dieser folgte zwei Jahre später seinem Vater als König Ludwig II. auf den Thron.

      Der Ludwig aber, der Sohn von dem Arzt Max, sollte nach dem Wunsch seines Vaters ebenfalls Arzt werden und einst seine Praxis übernehmen. An Medizin lag dem jungen Ludwig aber nichts. Er zeigte mehr Interesse für Jura. Darüber war sein Vater nicht allzu enttäuscht, denn sein zweiter Sohn, der Martin, studierte Medizin und wurde sein Nachfolger. Aus seinem Erstgeborenen aber wurde ein tüchtiger Rechtsanwalt. Deshalb nahm ihn König Ludwig II. in seine Dienste. Leider verstarb dieser König schon sehr bald auf tragische Weise.«

      »Ich weiß, er ertrank im Starnberger See. Dort wäre ich auch beinahe ertrunken.«

      »Ja, wie denn das, Dirndl?«, reagierte der Opa bestürzt. »Wie bist du denn an den See gekommen? Davon weiß ich ja gar nichts.«

      »Daheim habe ich nichts davon erzählt, um dich und die Mama nicht aufzuregen.«

      Nun war also ich an der Reihe, eine Geschichte zu erzählen:

      »Weißt Opa, die Schulzes, die Sommerfrischler aus Hamburg, die jedes Jahr bei uns Urlaub machen, haben doch eine Tochter, die Claudia, die ist zwei Jahre älter als ich. Vor drei Jahren nun langweilte sie sich furchtbar und bettelte so lange, bis mich ihre Eltern mit an den See nahmen. Vorher hatten sie natürlich meine Mama um Erlaubnis gefragt. Als wir an den See kamen, hüpfte die Claudia gleich ins Wasser, sie konnte ja schon schwimmen. Ich aber traute mich nur bis zu den Knien hinein.

      ›Komm, Lisi, wir bringen dir das Schwimmen bei‹, rief Frau Schulze. Vertrauensvoll ließ ich mich von den beiden rechts und links an die Hand nehmen. So wateten wir gemeinsam in den See hinein. Bald reichte mir das Wasser bis zum Kinn, obwohl ich schon auf Zehenspitzen ging. Das merkten die Schulzes aber nicht und machten den nächsten Schritt. In meiner Not wollte ich schreien. Doch als ich den Mund aufmachte, schwappte ein gehöriger Schwall Wasser hinein, der meinen Schrei erstickte. Da geriet ich in Panik und konnte mich nur dadurch bemerkbar machen, dass ich an den Händen der beiden zerrte. In dem Moment begriffen sie, dass ich bereits am Ertrinken war. Sie drehten sofort um, und ich ließ mich halbtot in den Sand fallen. Selbst als ich mich von dem Schrecken erholt hatte, war ich nicht mehr dazu zu bewegen, noch mal einen Fuß in den See zu setzen. Für den Rest des Tages baute ich an einer Sandburg. Die Mama wunderte sich, dass ich nach diesem Ausflug nie wieder mit den Schulzes zum Baden wollte.«

      Nachdem ich mein aufregendes Erlebnis erzählt hatte, fuhr Opa mit der Geschichte über den königlichen Rechtsanwalt fort: »Auch der Prinzregent wusste den tüchtigen Anwalt zu schätzen und behielt ihn in seinen Diensten. Als königlicher Beamter verdiente dieser nicht schlecht. Doch damit nicht genug, durch seinen Beruf lernte er bald Mathilde kennen, die nicht nur liebreizend war, sondern auch einen wohlhabenden Vater besaß. Die jungen Leute verliebten sich heftig ineinander, und ihr Vater hatte nichts gegen eine Verbindung. Als sie im Jahre 1890 heirateten, brachte sie eine ordentliche Mitgift mit in die Ehe. Von dieser und von Ludwigs Ersparnissen ließen sie 1891 von einem namhaften Architekten dieses Haus errichten. Die Bauweise dieser Häuser wurde später als Jugendstil bezeichnet.

      Zu ihrem großen Bedauern blieb das Paar lange Zeit kinderlos. Die junge Frau muss wohl die eine oder andere Fehlgeburt gehabt haben. Endlich aber, 1903, brachte Mathilde ein gesundes Töchterchen zur Welt, dem sie den Namen Gertraud gaben, es aber liebevoll nur Traudl riefen. Leider starb Traudls Mutter 1909 im Kindbett, nachdem sie ein weiteres Kind geboren hatte, einen Buben. Dieser starb gleich mit und wurde mit ihr im selben Grab beigesetzt. Also musste die kleine Traudl, erst sechs Jahre alt, ohne Mutter aufwachsen.«

      Bei dieser Erzählung kamen mir die Tränen: »Das kleine Mädchen tut mir so leid. Wer hat sich denn um es gekümmert? Hat ihr Papa wieder geheiratet?«

      »Nein, das hat er nicht. Er hatte seine Frau so sehr geliebt, dass er ihr keine Nachfolgerin geben wollte. Damit er und das kleine Mädchen versorgt waren, nahm er Hilde, seine älteste Schwester, die ledig war, ins Haus. Diese war sehr gut zu dem Kind.«

      Wieder legte der Großvater eine Pause ein. Doch ich drängte: »Wie ging die Geschichte weiter?«

      »Ludwig, Traudls Vater, war noch gar nicht sehr alt, da fühlte er sein Ende nahen. Deshalb bat er seinen Freund Adalbert, der ebenfalls im Dienste des Königshauses stand, er möge die Vormundschaft für seine Tochter übernehmen, für den Fall, dass er vorzeitig aus dieser Welt abberufen werden würde. Ludwig war sehr beruhigt, nachdem ihm der Freund zugesichert hatte, er werde sich um Traudl kümmern. Dieses Amt übernahm Adalbert tatsächlich, als Ludwig 1917 im Alter von nur fünfundfünfzig Jahren starb. Während die Waise Traudl weiterhin mit ihrer Tante in diesem Haus wohnte, schaute der Vormund gelegentlich vorbei und regelte die geschäftlichen Dinge. Als die junge Dame sechzehn war, hielt die Tante es für angebracht, sie mit Zustimmung des Vormunds in die Schweiz in ein Internat zu geben, damit sie die für ihren Stand angemessene Bildung bekomme. Drei Jahre später kehrte Traudl wieder nach Hause zurück. Inzwischen war sie zu einer Schönheit erblüht. Da kam dem Vormund die Idee, zumal sein Mündel nicht unvermögend war, sie sei eine gute Partie für seinen Sohn, den damals dreißigjährigen Ignaz. Diesen brachte er einmal ganz ›zufällig‹ mit, damit er sich die künftige ›Braut‹ unverbindlich anschaue. Spontan verliebte sich der junge Mann, stieß aber nicht auf Gegenliebe. Traudl fand keinen Gefallen an ihm, erstens sah er nicht besonders gut aus und zweitens machte er einen etwas einfältigen Eindruck, es kam nämlich keine vernünftige Unterhaltung mit ihm zustande. Das war vermutlich auch der Grund, warum er mit seinen dreißig Jahren noch unbeweibt war. Der Vormund unterdessen ermunterte seinen Sohn, ihr fleißig glühende Liebesbriefe zu schreiben, in der Hoffnung, dadurch könne er ihr Herz gewinnen. Wahrscheinlich hat der Vater seinem Sohn beim Verfassen der Briefe eingesagt. Nun kam ich ins Spiel. Als Postbote war es meine Aufgabe, ihr diese Briefe zu bringen. Die schöne Traudl stand schon jedes Mal am Gartentor, wenn ich – mit meiner schweren Posttasche beladen – kam. Sie stand da aber nicht, weil sie den Liebesbriefen entgegenfieberte, sondern weil sie ein Auge auf den Postboten geworfen hatte. Es gefiel mir, dass sie sich am Zaun immer auffallend ausgiebig mit mir unterhielt. Dennoch dauerte es ziemlich lange, bis bei mir endlich das Zehnerl fiel.

      Noch wesentlich länger dauerte es, bis ich es wagte, bei der Frau Tante um die Hand des gnädigen Fräuleins anzuhalten. Den Vormund brauchte ich zum Glück nicht mehr zu fragen, weil Traudl mittlerweile volljährig war. Noch bevor ich meiner Angebeteten den Heiratsantrag machte, muss sie ihrem glühenden Verehrer eine schriftliche Absage erteilt haben. Denn seine Briefe blieben – wie abgeschnitten – aus. Daher hätte es für mich eigentlich keinen Grund mehr gegeben, zu ihr an den Zaun zu eilen. Zum Glück war aber noch der eine oder andere Geschäftsbrief abzugeben. Auf deren Zustellung allein wollte ich mich aber nicht verlassen, deshalb fand ich nach Beendigung meines Dienstes immer wieder einen Grund, mich mit ihr zu treffen. Im April 1925 feierten wir Verlobung, und ein Jahr später führte ich sie zum Altar. Die Tante hatte nichts dagegen, im Gegenteil, sie fand mich sympathisch und war froh, dass sie die Verantwortung für das Dirndl in meine Hände legen konnte.

      Nach unserer Hochzeit zog sich Tante Hilde in ein Stift für wohlhabende Damen zurück.«

      »Dann war die Traudl also meine Großmutter«, platzte ich in plötzlichem Erkennen dazwischen.

      »Ganz recht, meine Prinzessin. Deine Großmutter und ich waren sehr glücklich miteinander. Nach einem Jahr bekamen wir eine Tochter, die Rosina.«

      »Ja«, wusste ich zu ergänzen, »sie wurde meine Mama.«

      »Auch das stimmt. Drei Jahre nach deiner Mutter kam deine Tante Klara zur Welt. Danach hatte meine Frau leider zwei Fehlgeburten. Daher gibt es einen so großen Abstand zu unserem dritten Kind. Als unser Sohn 1938 zu unserer großen Freude gesund zur Welt kam, gaben wir ihm zum Andenken an seinen Großvater den Namen Ludwig. Nun schien unser Glück vollkommen. Wie du weißt, fing ein Jahr später der Zweite Weltkrieg an. In unserer abgeschiedenen Region hatten wir zwar nicht direkt etwas von den Bomben zu befürchten. Aber wie überall in der Bevölkerung wurden die Lebensmittel knapp. Man bekam alles auf Karten zugeteilt. Wie froh waren wir in dieser Zeit über unseren großen Garten. Den Rasen wandelten


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