Verjagt von Haus und Hof. Roswitha Gruber

Verjagt von Haus und Hof - Roswitha Gruber


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ich nicht mehr, aber es war reichlich und gut. Satt und zufrieden lehnten sich alle zurück. Dann kam mein großer Auftritt. Die Mama hatte mich extra fein gemacht. Ich trug ein duftiges hellblaues Kleidchen, das die Mama eigens für mich genäht hatte. Es brachte meine rotgoldenen Locken voll zur Wirkung. So stand ich nun vor den vielen Leuten, die ihre Augen erwartungsvoll auf mich richteten. Ich machte den Mund auf und begann mit klarer Stimme:

      »Ich will dir einen Glückwunsch sagen,

      Dir unsrer lieben jungen Braut.«

      Doch weiter kam ich nicht. Verzweifelt wiederholte ich den ersten Vers, aber auch dann fand ich den Anschluss nicht. Mein Kopf war völlig leer, mir fiel kein weiteres Wort mehr ein. Leider konnte die Mama mir nicht einsagen, sie hatte den Zettel zu Hause gelassen. Die Situation war mir furchtbar peinlich. Alle Gäste und das Brautpaar saßen da mit erwartungsvollen Gesichtern, aber es kam nichts mehr. Als sie auch noch anfingen, mich zu trösten, war es mit meiner Fassung vorbei. Auf ihre Trostworte »Das macht doch nichts.«, »Das kann jedem passieren.«, »Hast es halt gut gemeint.«, kullerten mir dicke Tränen über die Wangen. Während meine Mutter mich aus der Gefahrenzone zog, hörte ich noch, wie sie der Festgesellschaft erklärte: »Gestern hat sie es einwandfrei gekonnt. Glaubt mir, das ist nur die Aufregung.«

      Im Nebenzimmer schluchzte ich: »Ich hab’s doch so gut gekonnt.«

      »Freilich hast du das«, bemühte sich Mama, mich wieder aufzubauen. »Lisi, das ist kein Grund zum Weinen. Schau, ein vergessenes Gedicht ist doch kein Beinbruch.«

      Dieser Satz gab mir nicht nur in diesem Moment mein Selbstbewusstsein zurück, er wurde mir auch in meinem späteren Leben zum Trostspruch, wenn mir etwas nicht so glückte, wie es sollte. Ich trocknete meine Tränen und wanderte mit der ganzen Gesellschaft zum Haus des Bräutigams, wo wir uns fröhlich an der Kaffeetafel niederließen. Nach der Hochzeitsfeier zog Tante Klara bei uns aus, damit wurde ihre Kammer endgültig frei für Sommergäste.

      Wenige Wochen später begann für mich der Ernst des Lebens; ich wurde eingeschult. Die obligatorische Schultüte schenkte mir Onkel Ludwig. Nanni, meine Freundin vom Bauernhof, und Dieter, der Junge aus der Nachbarschaft, kamen mit mir in die Schule. Zunächst saßen Nanni und ich zusammen in einer Bank. Bald schon aber setzte uns die Lehrerin auseinander mit der Bemerkung: »Das tut nicht gut, wenn ihr nebeneinander sitzt. Ihr ratscht zu viel.«

      Das tat unserer Freundschaft keinen Abbruch. Am Nachmittag waren wir viel beisammen, manchmal bei uns, viel öfter aber auf dem Bauernhof. Eines Tages, als ich sie besuchte, herrschte freudige Aufregung im Haus. Nannis Mutter hatte ein Baby bekommen, einen kleinen Benno. Ach, war der niedlich! Die rosigen Pausbäckchen, die winzigen Fingerchen, die zu Fäustchen geballt neben seinem Gesicht lagen. Er war eine lebendige Puppe zum Liebhaben. Nun wollte ich auch unbedingt ein Geschwisterchen haben. Mit diesem Wunsch zur Mama zu gehen, wagte ich allerdings nicht. Ihre Antwort kannte ich schon. Sie würde sagen, ich soll dem Christkind einen Zettel schreiben und ihn auf die Fensterbank legen. Dieser Sache traute ich aber nicht mehr. Erstens hatte ich statt eines Hundes ein Fahrrad bekommen, und zweitens behaupteten meine Mitschüler, nicht das Christkind würde die gewünschten Sachen bringen, sondern die Eltern würden diese im Geschäft oder aus einem Katalog kaufen. Wie aber hätte mir meine Mutter diesen Wunsch erfüllen können? Babys gab es ja nirgends zu kaufen, weder im Laden noch in einem Katalog, so viel wusste ich schon. Bei meinem nächsten Besuch auf dem Bauernhof erkundigte ich mich bei meiner Freundin, wie man zu kleinen Kindern käme.

      »Die bringt der Klapperstorch«, antwortete sie im Brustton der Überzeugung.

      »Wirklich? Bist du da ganz sicher?«

      »Freilich, schau doch, auf dem Schuldach nistet ein Storch. Der fliegt immer zu einem großen Weiher, um Frösche zu fangen. Manchmal fischt er aber auch ein Baby heraus und bringt es zu Leuten, die sich eines wünschen.«

      »Woher weiß der Storch, wer sich ein Baby wünscht?«

      »Das ist ganz einfach. Man legt Zucker auf die Fensterbank. Im Vorbeifliegen sieht der Storch ihn, packt ihn mit seinem großen Schnabel und weg ist er.«

      »Woher weißt du das alles?«, fragte ich, immer noch zweifelnd.

      »Meine Oma hat es mir erzählt.« Diese Oma kannte ich, sie schien mir eine vertrauenswürdige Person zu sein. Dennoch blieb ich skeptisch: »Und du meinst, dass das wirklich hilft?«

      »Gewiss hilft das. Ich hab’s doch selbst ausprobiert. Wie du siehst, habe ich ein Brüderl gekriegt. Darüber sind wir alle glücklich, besonders aber der Papa. Er braucht ja einen Erben für den Hof.«

      Sie klärte mich noch darüber auf, dass es Würfelzucker sein müsse. Davon solle ich am Abend einige Stücke auf die Fensterbank legen. »Sei nicht traurig, wenn es nicht beim ersten Mal klappt. Du musst Geduld haben und es nach ein paar Wochen wieder versuchen.«

      Ihre Empfehlungen befolgte ich genau. Die Mama stellte den Feriengästen immer Würfelzucker auf den Frühstücktisch. Davon entwendete ich jeden Morgen nur zwei Stücke, damit es nicht auffallen würde. Als ich sechs Stücke beisammen hatte, legte ich sie am Abend hinaus auf die Fensterbank des Esszimmers. Dort musste der Storch sie im Vorbeifliegen ganz sicher sehen. Tatsächlich, am anderen Morgen waren sie verschwunden. ›Der Storch hat den Zucker gefunden‹, jubilierte ich innerlich. Aber von einem Baby war in den folgenden Tagen nichts zu sehen. Also wiederholte ich das Experiment nach einigen Wochen. Ohne Erfolg. Nachdem ich das Ganze noch zwei- oder dreimal durchgeführt hatte, gab ich auf. Inzwischen war es nämlich Herbst geworden, und die Störche waren nach Süden gezogen. Da wäre es reine Verschwendung gewesen, weiterhin Zucker auf die Fensterbank zu legen.

      Im Dezember kam der erste Schnee, da hatten wir Kinder nur noch Schlittenfahren im Sinn. Nicht allzu weit von unserem Haus entfernt erhob sich ein ansehnlicher Hügel. Dort trafen sich die Kinder aus der näheren Umgebung, vor allem auch Nanni und Dieter. Gleich nach dem Mittagessen zogen wir los, um die Tageshelligkeit auszunutzen. Die Hausaufgaben ließen sich später auch bei Lampenschein erledigen. Schlittenfahren konnte man bis in den März hinein. Dann wurde der Schnee zu wässrig. Zu meiner Freundin jenseits des Baches konnte ich dann nicht mehr. Zur Zeit der Schneeschmelze wurde unser harmloser Bach nämlich zu einem reißenden Ungeheuer. Dann trat er mit schöner Regelmäßigkeit über die Ufer und machte die kleine Brücke unpassierbar. An solchen Tagen war ich auf Dieter als Spielkamerad angewiesen. War ich bei ihm, musste ich immer mit seiner Dampfmaschine, seiner Eisenbahn und seinen Autos spielen. Das fand ich fad. Deshalb war es mir lieber, er kam zu mir. Wenn wir dann mit den Puppen »Vater, Mutter, Kind« spielten, fand er das fad. Er fing an, mit mir zu streiten, und zog wutentbrannt von dannen. So ein Streit hielt manchmal mehrere Tage an. Wenn ich es wagte, mich auch nur in Richtung seines Hauses zu bewegen, warf er mit Schneebällen. Stritten wir im Herbst, benutzte er heruntergefallene Äpfel als Wurfgeschosse. Nicht nur im Ausweichen entwickelte ich eine erstaunliche Geschicklichkeit, bald hatte ich auch genug Kraft in den Armen, um das Feuer erwidern zu können. Dann lenkte er schnell ein.

      Als im Mai mit den ersten Gästen auch wieder Würfelzucker auf dem Tisch stand, wollte ich es doch noch mal mit dem Storch probieren. Wieder stibitzte ich einige Stückchen und platzierte sie an der bewussten Stelle. Wieder verschwand der Zucker, aber von einem Baby keine Spur. In den folgenden Monaten versuchte ich es noch einige Male. Statt aber bei uns ein Baby abzuliefern, brachte der Storch es zu Tante Klara, zu deren Hochzeit ich im Juni das Gedicht verpatzt hatte und die ein paar Straßen weiter wohnte. Was mich dabei wunderte; der Storch brachte ihr das Baby im November, wo doch längst alle Störche in Afrika sein sollten. Dieser Storch kannte sich anscheinend mit dem Kalender nicht aus und hatte deshalb eine verspätete Lieferung gebracht. ›So ein blöder Storch‹, ärgerte ich mich. ›Von mir nimmt er den Zucker, und das Baby bringt er zur Tante.‹

      Nun hatte ich die Nase voll von dem undankbaren Vogel. Im Frühjahr würde ich ihm meine erbeuteten Zuckerstücke nicht mehr hinlegen, sondern sie selbst vernaschen.

      Den Gedanken an ein Brüderchen oder Schwesterchen hatte ich längst aufgegeben, als Tante Klara Ende Januar 1961 mal wieder ihren Vater besuchte. Er hatte gerade seinen Mittagsschlaf beendet. Während sie und Mama mit Opa im Esszimmer bei einer Tasse Kaffee saßen, spielte ich in der


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