Verjagt von Haus und Hof. Roswitha Gruber

Verjagt von Haus und Hof - Roswitha Gruber


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Kopf und strich ein paar Mal über seinen Bart hinab, ehe er zu einer Rede ansetzte: »Das hast du dir ja recht gut überlegt, Dirndl. Ein Hund für uns wäre gar nicht so verkehrt. Schreibst dem Christkind halt deinen Wunsch auf.«

      Vom vergangenen Jahr her wusste ich noch gut, wie man das macht. Auf meinen Zettel, den ich mir von der Mama erbeten hatte, malte ich etwas Vierbeiniges, das man mit gutem Willen für einen Hund halten konnte. Zur Sicherheit legte ich mein »Gemälde« aber noch meiner Mutter vor: »Meinst, das Christkind kann erkennen, dass ich mir einen Hund wünsche?«

      »Freilich wird es das erkennen. Du weißt ja, wo du den Zettel hinlegen musst.«

      In der Adventszeit durfte ich am Kalender wieder jeden Tag ein Türl öffnen und fieberte dem Weihnachtsfest entgegen. Unsicher fragte ich häufig bei den gemeinsamen Mahlzeiten, ob das Christkind wohl meinen Herzenswunsch erfüllen werde. Genervt von meiner ewigen Fragerei antwortete mein Onkel, zu der Zeit neunzehn Jahre alt: »Ja, Dirndl, woher sollen wir das wissen? Aber mir hat heut Nacht geträumt, dass du Weihnachten etwas bekommst, das Töne von sich gibt.«

      »Juhu!«, jubelte ich in kindlicher Begeisterung. »Das bedeutet, ich kriege den Hund.«

      Wie groß war meine Enttäuschung aber, als ich das Weihnachtszimmer betrat. Kein Hund sprang mir fröhlich entgegen. Am Tisch lehnte stattdessen ein Kinderfahrrad, ein funkelnagelneues. So manches Kind hätte bei seinem Anblick einen Luftsprung gemacht. Ich aber nicht. Ich war so fixiert auf den Hund gewesen, dass ich das Radl keines weiteren Blickes würdigte. »Warum hat mir das Christkind keinen Hund gebracht?«, fragte ich enttäuscht in die Runde.

      »Vielleicht war dein Hund so schlecht gemalt, dass das Christkind ihn für ein Fahrrad gehalten hat«, spottete der Onkel.

      Verbittert warf ich ihm vor: »Was hast denn du für einen Schmarrn geträumt?«

      »Es stimmt doch, was ich dir erzählt habe«, verteidigte er sich. »Von einem Hund war nie die Rede. Ich habe nur behauptet, du kriegst etwas, das Töne von sich gibt. Hier, schau doch«, dabei betätigte er die Klingel. »Sind das Töne, oder nicht?«

      Gewiss, ich musste ihm recht geben. Dennoch blieb meine Enttäuschung tagelang bestehen. Um mich abzulenken, beschäftigte ich mich mit meinen Puppenkindern. Von meiner Patin aus Nürnberg war wieder die obligatorische Puppe angekommen, und für jede Puppe hatte ein neues Kleid auf dem Gabentisch gelegen.

      Erst im Frühjahr, als die Wege wieder schnee- und eisfrei waren, wusste ich mein Radl zu schätzen. Denn auch Freundin Nanni hatte ein neues Rad bekommen und es vorsichtig über den hölzernen Steg geschoben. Dann gab es noch einen Dritten im Bunde, den Dieter. Er war in unserem Alter, wohnte in einem der nahe gelegenen Reihenhäuser und war seit Weihnachten ebenfalls stolzer Besitzer eines Fahrrades. Nachdem der Opa mir geduldig das Radfahren beigebracht hatte, radelten wir um die Wette auf wenig befahrenen öffentlichen Wegen.

      Einen Hund habe ich leider nie bekommen, bald war ich auch nicht mehr interessiert daran. Wenn ich einen Hund knuddeln wollte, konnte ich ja hinüber zum Bauernhof gehen.

      Die Abende mit Opa liebte ich besonders. Bei schönem Wetter setzten wir uns auf die Gartenbank, ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter, und er erzählte. Regnete es aber oder es war im Freien zu kalt, zogen wir uns zurück ins Wohnzimmer und machten es uns auf dem Kanapee gemütlich. Im Winter allerdings, wenn es wirklich kalt war, ging das nicht. Dort wurde nämlich nur zu Weihnachten, zu Neujahr und zu Ostern eingeheizt. Es hieß ja: Holz und Kohlen sparen. Nur der Ofen im Esszimmer wurde im Winter jeden Tag angezündet, und der Küchenherd wurde täglich angemacht, weil ja darauf gekocht wurde. Zwischen Küche und Esszimmer befand sich eine Tür, was das Auftragen des Essens erleichterte. Oft machten wir am Abend alle zusammen Karten- oder Brettspiele.

      In der Zeit vor meiner Einschulung erzählte der Opa mir Märchen. »Rotkäppchen«, »Hänsel und Gretel« und »Der Wolf und die sieben Geißlein« konnte ich nicht oft genug hören. Er musste sie wieder und wieder erzählen. Mit der Zeit wurde ihm das aber zu langweilig. Deshalb versuchte er, kleine Änderungen einzubauen. Doch ich ertappte ihn jedes Mal und korrigierte ihn. »Du lässt dir aber nichts vormachen«, schmunzelte er und erzählte die Originalversion.

      Nachdem ich Lesen und Schreiben gelernt hatte und meine Märchen selbst lesen konnte, erwartete ich andere Geschichten von ihm. Für mich war es unheimlich spannend, wenn er von seinen Kriegserlebnissen erzählte. Wie ich mich erinnere, wurde er im Alter von einundzwanzig Jahren einberufen. Gleich nach der Grundausbildung setzte man ihn in Frankreich in der Schlacht um Verdun ein. Diese zog sich von Februar 1916 über viele Monate hin. Bereits im September erwischte es meinen Großvater. Nach einem Lungenschuss dachte er schon, es sei aus mit ihm. Er fühlte sich mehr tot als lebendig, als man ihn nach Koblenz ins Lazarett brachte. Auf einer Röntgenaufnahme konnte man erkennen, dass die Kugel noch in der Lunge steckte. Es bestand aber keine Möglichkeit, sie herauszuoperieren. Die Ärzte konnten nur abwarten, was geschehen würde. Der Opa hatte Glück, die Kugel verkapselte sich, und er konnte nach vielen Monaten Lazarettaufenthalt entlassen werden. Wörtlich sagte er zu mir: »Nicht der Kunst der Ärzte habe ich es zu verdanken, dass ich überlebt habe, sondern meinem Schutzengel und dem lieben Gott. Der wollte mich noch nicht haben. Er wollte, dass ich ein so süßes Enkelkind haben würde wie dich.«

      Nach dem Lungensteckschuss, war mein Großvater nicht mehr kriegstauglich, und man schickte ihn heim. Selbst den kleinen Kolonialwarenladen, den er von seinem Vater übernommen hatte, konnte er nicht mehr betreiben. Schon lange vor Kriegsausbruch war sein Vater aus Unterfranken »eingewandert«. Da der aufgeweckte junge Mann keine andere Verdienstmöglichkeit finden konnte, erkannte er bald, dass sich mit einem Geschäft etwas verdienen lasse. Er gründete den Kolonialwarenladen, der ihn und seine Familie gut ernährte.

      Zu gerne hätte Korbinian diesen Laden weiter betrieben, doch durch seine Kriegsverletzung war er dazu nicht mehr in der Lage. Er konnte ja keine Mehl- und Zuckersäcke oder Heringsfässer schleppen.

      In meiner Kindheit befanden sich aus diesem Geschäft auf unserem Speicher immer noch einige Maisstrohbesen, Bürsten und Kehrschaufeln, die er mir eines Tages zeigte. »Warum hast du das Zeug aufgehoben?«, wollte ich wissen. »Zum Wegwerfen sind die Sachen zu schade, und manchmal kommt noch jemand, der mir etwas davon abkauft.«

      Als Kriegsversehrter hatte Opa ein Anrecht darauf, vom Staat in einer Stelle untergebracht zu werden, die ihm zumutbar war. Also schickte man ihn zur Post. Nach einer kurzen Anlernzeit wurde er Postbote. Als solcher hatte er keine schwere Arbeit zu verrichten. Außerdem tat die Bewegung in frischer Luft seiner Lunge gut.

      Lange Zeit, nachdem Opa mir diese Geschichte erzählt hatte, interessierte mich eine ganz andere Geschichte von ihm. Mir war aufgefallen, dass wir in einem vergleichsweise feudalen Haus wohnten. Dieses Gebäude, freistehend, hatte nicht nur eine große Grundfläche, es war auch zweistöckig gebaut mit hohen Räumen. Darüber befand sich der geräumige Speicher. Unsere Nachbarn dagegen, deren Häuser in etwa hundertfünfzig Metern Entfernung begannen, lebten in kleinen, schmalen Reihenhäusern mit niedrigen Zimmern. Bei diesen lag über dem Erdgeschoss gleich das Dachgeschoss, in dem sich die Schlafkammern befanden. Diese hatten teilweise schräge Wände, sodass man keinen richtigen Kleiderschrank aufstellen konnte. Wir hatten ein eigenes Esszimmer, während in allen Häusern, zu denen ich Zugang hatte, in der Küche gegessen wurde.

      »Wieso?«, fragte ich eines Tages meinen Großvater, obwohl ich erst zehn Lenze zählte, »kannst du es dir als einfacher Postbote leisten, in einem so großen Haus zu leben?«

      Er lachte: »Das ist ganz einfach erklärt: Ich habe eingeheiratet.«

      »Wie das? Wie kann man denn in ein Haus einheiraten?«

      »Interessiert dich das wirklich, meine kleine Prinzessin?«

      »Natürlich interessiert mich das. Du weißt doch, dass ich Geschichten liebe, besonders wenn sie wahr sind.«

      Also begann er: »Es war einmal …«

      »Halt! Stopp!«, unterbrach ich ihn. »So fangen immer die Märchen an. Du sollst mir aber kein Märchen erzählen, sondern eine wahre Geschichte.«

      »Aber Lisi, das ist doch eine


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