Sweetland. Michael Crummey

Sweetland - Michael  Crummey


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fuhr hinter seinem Haus los und als sie oben am Weg den Königsstuhl erreichten, klatschte ihm Jesse auf die Schulter und rief, er solle anhalten. Er sprang vom Quad und rannte hinüber zu den Steinen, wobei er den Helm vom Kopf nahm. Die Sonne kam erst jetzt richtig heraus und der Ozean färbte sich im neuen Licht tiefblau. Jesse sprang auf den Sitz und breitete die Arme aus. » Ich bin der König der Welt! «, rief er und seine Stimme hallte den Hügel hinunter bis zur Bucht. » Ich bin der König der Welt! «

      Sweetland musste zugeben, dass er der einzige Mensch in der gesamten Christenheit war, der diesen gottverdammten Titanic-Film nicht gesehen hatte. Jesse dagegen kannte ihn so gut, dass er jeden Dialog wörtlich zitieren konnte und das auch manchmal tat. Wenn sie an dem Thron vorbeikamen, bestand er jedes Mal darauf, dass sie anhielten, und Sweetland wartete auf dem Quad, während der Junge den Moment genoss.

      » Kommen Sie, Eure Hoheit «, sagte er schließlich, » der Tag wird nicht jünger. «

      Hinter dem Königsstuhl bog der Weg östlich ab zu Vatcher’s Meadow, wo Glad Vatcher seine Tiere übersommern ließ – ein halbes Dutzend Kühe und ein Bulle, sowie zwanzig Schafe, eingezäunt auf vierzig Morgen Sumpfgras und Ginster. Zu beiden Seiten war ein Gatter, damit Menschen die Wiese überqueren konnten, wenn die Tiere den Winter über im Stall waren, doch im Sommer verlief der Pfad um das Feld herum. Sie fuhren einen knappen Kilometer den Stacheldrahtzaun entlang landeinwärts, bis sie auf der anderen Seite wieder auf den Weg trafen, der sich nach Osten über die Landspitzen nach Burnt Head verzweigte. Das Plateau war mit massiven Granitfelsen gesprenkelt, von denen Jesse behauptete, dass sie Findlinge genannt und am Ende der letzten Eiszeit von zurückweichenden Gletschern liegen gelassen wurden.

      So was bringen sie euch heutzutage in der Schule bei?, hatte er gefragt.

      Hab es im Fernsehen gesehen, sagte Jesse.

      Für Sweetland war es ein Wunder, was alles im Kopf des Jungen hängen blieb. Er bestand noch immer darauf, sich zum Pinkeln vollständig auszuziehen, und es war nicht sicher, dass er die Toilette spülte, doch er konnte Vorträge über hundert verschiedene Themen halten – Flugzeuge, das Verdauungssystem, Mondlandungen, den Mount Everest, Tischtennis, Walfische. Sweetland graute davor, wenn der Junge mit Walfischen anfing: ihre lateinischen Namen, ihre Anzahl und Größe, ihre Ernährung, ihre Wanderrouten, der Klang und die Bedeutung ihrer Gesänge. Es war fast so, als würde eine Kassette im Kopf des Jungen nur darauf warten, dass jemand den Startknopf drückte.

      Hinter der Marsch schwenkte der Weg in Richtung Meer ab. Alle zwanzig Meter befanden sich uralte Steinhaufen neben dem Pfad, um die Fußgänger davon abzuhalten, in der Dunkelheit oder bei stürmischem Wetter über den Klippenrand zu stürzen. Fast einhundert Meter bis zur Brandung darunter. Hinter der Anhöhe konnte man gerade so die Spitze des alten Leuchtturms erkennen, draußen am Burnt Head.

      Sweetland parkte hinter dem verlassenen Haus des Leuchtturmwärters, das die zehn Jahre unbesetzt war, seit man das Leuchtfeuer automatisiert hatte. Jesse lief die morschen Stufen hinauf, hielt die Hände an die Fenster und nannte die neusten Schäden. Sturmböen hatten die Dachschindeln an der Meerseite abgedeckt, und die erbarmungslose Feuchtigkeit war durch die Decke gefault, der Fußboden übersät mit Brocken der Deckenverkleidung und durchweichter Dämmung. Überall lagen Mäuse­köttel. Sweetland hasste es, auch nur hinzusehen. » Geh da bloß nicht rein «, rief er.

      Er nahm seine Zweiundzwanziger und den Rucksack vom Quad und sie gingen wieder landeinwärts. Das neue Leuchtfeuer blinkte zu ihrer rechten Seite, als sie sich von dem verfallenen Gebäude entfernten. Heutzutage war es nur ein Blinklicht auf einem metallenen Dreibein, das an der äußersten ­Stelle in den Felsen gebohrt war. Dreißig Meter nördlich war ein Hubschrauber­landeplatz auf die Fever Rocks gebaut worden, den die Küstenwache nutzte, wenn sie Vorräte zum Leuchtturmwächter brachte oder das Leuchtfeuer warten musste. Jesse hatte ihm erzählt, dass man so einen Hubschrauberlandeplatz Helipad nannte.

      Das hast du dir ausgedacht, hatte Sweetland gesagt.

      Hab ich nicht.

      Es gibt gar kein Wort wie Hellspad.

      Helipad, hatte Jesse wiederholt. Nichts traf den Jungen mehr als Ungenauigkeit oder Ausgedachtes. Bei dieser bemerkenswerten Ausnahme war er übertrieben wortgetreu. Er buchstabierte Helipad für Sweetland, um die Korrektheit des Wortes zu unterstreichen. Er war schon immer ein Meister im Buchstabieren gewesen. Dem Reverend zufolge mit einem fast fotografischen Gedächtnis. Der Reverend meinte auch, dass man den Jungen noch vor einer Generation als Idiot Savant bezeichnet hätte.

      Ich würde sagen, das stimmt ungefähr zur Hälfte, hatte Sweetland gesagt.

      Sweetland nannte es weiter Hellspad, obwohl der Junge protestierte. Er ließ keine Gelegenheit aus, Jesse in seiner kindlichen Ernsthaftigkeit zu necken. Damit hatte er gehofft, den Jungen vom ausgetretenen Pfad seiner Gedanken wegzulocken und ihn dazu zu bringen, die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Es hatte zwar keinen merklichen Unterschied gemacht, aber er war hauptsächlich aus Gewohnheit dabeigeblieben. Jesse wiederum schien Sweetlands Neckerei als etwas Gegebenes zu akzeptieren, ließ ihm fast gönnerhaft die Freiheit, sich wie ein Narr zu benehmen, wie ein Hofnarr in Jesses Königreich der Genauigkeit.

      Jenseits des Landeplatzes befand sich ein stillgelegtes Windenhaus, und man hatte von der Winde bis hinunter zum Wasser über die ganzen sechzig Meter eine Reihe von Leitern in die Klippen geschraubt, die in seltsamen Neigungen den Konturen der Felswand folgten. Die Fever Rocks waren der Zugang für den Leuchtturmwärter, lange bevor Hubschrauber eine Option waren, dabei wurden die Vorräte und Materialien mit der Winde von den Booten nach oben gezogen. Die Leitern wurden als Notzugang zum Leuchtfeuer noch immer gewartet, falls es für den Hubschrauber zu neblig war. Sie wirkten, als wären sie vom Cartoonzeichner Dr. Seuss konstruiert und gebaut worden. Seit Generationen waren die Jugendlichen der Insel hinausgerudert, um als Mutprobe über die Leitern hinaufzuklettern. Sweetland hatte es selbst einmal geschafft, er und Duke und Pilgrim, mitten in der Nacht und stockbetrunken. Bei dem Anblick wurde ihm noch immer etwas schwindlig, fast sechzig Jahre danach.

      Der Pfad führte in eine Gegend mit Buschwald und verlief oberhalb einer in den Inselrücken gekerbten Schlucht, von dort weiter bis zu deren südlicher Spitze. Auf diesem Weg pflegte der Leuchtturmwärter zum Leuchtfeuer am Südende oberhalb der Mackerel Cliffs zu kommen, was in früheren Zeiten eine fünfstündige Fahrt mit der Pferdekutsche war. Sweetland schaffte es mit dem Quad in einer guten Stunde. Der Weg wurde nur noch selten genutzt und war fast überwuchert, die Fichten rückten immer näher. Die beiden mussten hintereinander gehen, ­Jesse voran, und die feuchten Äste durchnässten beim Gehen ihre ­Ärmel.

      Clara hatte dem Jungen die Haare schneiden lassen, als sie in St. John’s waren, Nacken und Seiten kurz. Sweetland konnte den Doppelwirbel an Jesses Hinterkopf sehen. Dazwischen standen ein paar Haare hoch, ein unberechenbares Büschel, das seinen eigenen Weg ging, seit er genug Haare zum Kämmen hatte. Bevor Jesse laufen konnte, hatte sich Sweetland diese Haare immer um den Finger gewickelt, damit sie steil aufragten und wie eine Feder im Kopfschmuck der Cowboyfilme aussahen, die er sich zusammen mit Duke in den alten Kinos von Toronto angeguckt hatte. Er nannte ihn Mamas kleinen Indianer.

      Jetzt ertrug es der Junge nicht mehr, wenn ihn jemand am Kopf berührte, und Sweetland befürchtete, dass er womöglich schuld daran war. Nur mit Mühe konnte er sein Bedürfnis unterdrücken, den Arm auszustrecken und das Haarbüschel glatt zu streichen.

      Die Schlingen waren am Fuß von Fichten ausgelegt, wo Wildwechsel den Weg kreuzten. Sie waren an einen Erlenstock gebunden, den er fest in den Boden gerammt hatte, die silberne Schlinge unter Gestrüpp versteckt. In der ersten Falle lag ein Kaninchen und Sweetland kniete sich hin, um Jesse dabei zu helfen, den Draht vom Hals zu ziehen. Dann band er ein Stück Schnur um die Pfoten, damit der Junge das Tier über der Schulter tragen konnte.

      Sie gingen fast zwei Stunden, bevor sie zum Mittagessen anhielten und sich auf einer Lichtung hinter dem Tal niederließen. Die Dachspitze von der Hütte der Priddles halb verborgen zwischen den Fichten und Birken weiter unten. Das Lärmen der Tölpel, die auf der Landspitze von Music House brüteten, hallte zu ihnen hoch. Ihre Bemühungen wurden


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