Sweetland. Michael Crummey

Sweetland - Michael  Crummey


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das Laptop.

      Clara hob die Tüte mit dem Kaninchen an, um sie ein Stück näher zu ihm zu schieben. » Es ist außerhalb der Saison. «

      » Dieses Jahr sind es einfach zu viele «, sagte er. » Sie werden im Wald sterben, wenn der Winter kommt. «

      » Ich will es nicht im Haus haben «, sagte sie.

      Er sah zu der Plastiktüte auf dem Tisch. Wässrige Blutstriemen in den Falten. » Ich habe nur ein Dutzend Fallen ausgelegt «, sagte er. » Der Junge liebt es, da draußen zu sein. «

      » Jesse hat eine Woche Schule mit mir in St. John’s verpasst «, sagte sie. » Mehr darf er nicht verpassen. «

      » Es war dein Hund, der heute Morgen Krawall geschlagen und ihn aufgeweckt hat. «

      » Hättest du ihn nicht einfach wieder nach Hause schicken können? «

      Sweetland zuckte mit den Schultern. » Er hat seinen Großvater gefragt, ob er mitkommen darf. «

      Clara legte eine Hand über die Augen und wirkte wie ihre Mutter, dachte Sweetland. Sonst hatte Clara fast nichts von Ruth, doch diese subtile Geste der Erschöpfung oder Furcht oder Verärgerung, das war Sweetlands Schwester, wie sie im Buche stand. Er trug das Fleisch durch die Küche zur Kühltruhe, um etwas mehr Abstand zwischen sich und diese unheimliche Verwandlung zu bringen.

      Jesse war noch ein Säugling gewesen, als Clara nach Sweetland zurückkehrte und kein Wort darüber verlor, wer der Vater war oder was aus ihm geworden war. Soweit er wusste, hätte Clara das Kind genauso irgendwo unter einem Felsen finden und nach Chance Cove bringen können, um es als ihr Eigenes aufzuziehen. Sie war fast zehn Jahre weggewesen, zunächst an der Universität in St. John’s, und dann als Wanderarbeiterin auf dem Festland. Nach ihrer Rückkehr ging sie in den ersten Monaten immer sonntags mit Jesse auf dem Rücken hinaus zum Leuchtturm. Er konnte sie kommen sehen, wenn er im Turm war und sich der rote Fleck ihrer Goretex-Jacke über die Marsch bewegte. Er beobachtete, wie sie langsam vorwärtskam, bis sie schließlich nahe genug war, damit er ihre Gesichtszüge erkannte. Dann ging er die Wendeltreppe hinunter und setzte den Kessel auf.

      Sweetland hatte kein Wort über ihre Entscheidung verloren, für die Schule von der Insel zu gehen, obwohl er von Anfang an dagegen war, da Ruthie tot war und Pilgrim allein im Haus zurechtkommen musste. Und auf eine kleine, gehässige Weise hatte er sich von Clara abgewandt. Soll sie doch kriegen, was sie will, dachte er, ohne jemals darüber nachzudenken. Eine kaum wahrnehmbare Kälte ihr gegenüber, die er sofort verleugnet hätte, wenn sie es ihm vorgeworfen hätte. Er saß an seinem Küchenfenster, als sie vom Kai die Fähre bestieg. Sie wandte sich um und sah den Hügel hinauf, da sie wusste, dass er sie beobachtete. Er hatte die ganze Zeit kein Wort von ihr gehört, als sie unterwegs war, abgesehen von dem, was er aus zweiter Hand durch Pilgrim oder Queenie erfuhr.

      Er nahm an, dass Clara sonntags den ganzen Weg bis zum Leuchtturm ging, um den erwarteten Kirchgang zu vermeiden. Sie saß dann auf dem Sofa und trank Tee, während Sweetland mit Jesse über den Boden krabbelte, ihn an den Füßen hochhob und Pupse auf seinen Bauch blies, um den Jungen zum Lachen zu bringen. Ihm war noch kein Kind begegnet, das weniger zum Lachen neigte, und er nahm es als persönliche Herausforderung, ihn von diesem Leiden zu heilen. Er konnte jetzt nicht mehr sagen, ob er schon damals gespürt hatte, dass mit Jesse etwas nicht in Ordnung war, oder ob es ihm nur in der Rückschau so vorkam, dass es eine unnatürliche Distanz im Blick dieses Kindes zu geben schien. Als schaute der Junge vom weit entfernten Ende eines Tunnels auf die Welt.

      Bei diesen Besuchen sagte Clara kaum ein Wort, sah nur zu, wie Sweetland mit Jesse auf dem Boden herumalberte. Zwischen ihnen war eine bedeutungsvolle Stille, als würde sie darauf warten, dass ihr für irgendein Vergehen vergeben würde. Oder um ihm die Gelegenheit zu bieten, selbst um Vergebung zu bitten. Und sein Versagen, das eine oder andere zu tun, war eine weitere Sache, die sie jetzt gegen ihn einnahm. Dabei bestand die schlichte Wahrheit darin, dass er sich davor fürchtete, mit dieser Frau zu sprechen.

      » Jesse sagt, er wird mit dir hierbleiben, wenn alle andere gehen «, sagte Clara. Sie hatte die Stimme erhoben und Sweetland merkte, dass dies der wahre Grund für ihr Kommen war. Dass es sie Mühe kostete, das Thema anzuschneiden.

      » Wirklich? «

      » Ich hoffe, du hast nichts gesagt, um ihm diesen Gedanken in den Kopf zu setzen. «

      » Er hat seinen eigenen Kopf. «

      » Er kommt mit Veränderungen nicht so gut zurecht, wenn du das meinst. «

      Sweetland wandte sich vom Kühlschrank zu ihr. » Hast du ihm erzählt, dass Hollis einen Winter im Krankenhaus verbracht hat? In St. John’s? «

      » Onkel Hollis? «

      » Jesse behauptet, dass er es von Hollis selbst gehört hat. «

      » Weshalb war er drin, Tuberkulose? «

      » Jesse sprach, als würde Hollis mit uns im Wald sitzen. «

      Clara zuckte mit den Schultern. » Der Doktor sagt, das wäre normal genug. «

      » Normal genug? «

      » Er sagt, dass sich das bei Jesse vielleicht auswächst. «

      » Haben die schon einen Namen dafür? «, fragte er.

      » Für was? «

      » Was auch immer mit dem Jungen nicht in Ordnung ist. «

      » Da gibt es eine ganze Bandbreite «, sagte sie. Sie blickte vor sich auf den Tisch, als würde sie sich dafür schämen, wie schwach sich diese Erklärung anhörte. » Und er ist nicht typisch, das haben sie mir auch gesagt. «

      » Das hätte ich dir alles gratis sagen können «, sagte er. » Hätte dir die Reise erspart. «

      » Der Doktor hat Jesse noch nicht oft genug gesehen, um mehr sagen zu können. Wenn wir in St. John’s leben würden, dann könnten wir ihn richtig untersuchen lassen. Wir könnten ihn für ein Schulprogramm anmelden. «

      » Jesse wäre nirgendwo anders glücklich als hier «, sagte Sweetland, » das weiß ich genau. « Er schob den Wasserkessel auf die Hitze des Ofens. » Er will morgen mitkommen, wenn ich eine Ladung Holz hole. «

      » Oh, Gott «, murmelte Clara.

      » Es ist sowieso Samstag «, sagte Sweetland leise. » Willst du eine Tasse Tee? «

      Doch sie war bereits halb zur Tür heraus.

      Vor Einbruch der Dunkelheit machte er seinen Abendspaziergang. Obwohl es bereits die erste Juniwoche war, fühlte sich die Luft kühl an. Der Wind ließ mit der untergehenden Sonne nach. Er ging bis zu seiner Steghütte am Ufer, dann weiter den ganzen Weg zur Metallglocke der alten Müllverbrennungsanlage auf der Landzunge. Kilometerweit entfernt konnte er ein Containerschiff auf seinem Weg seewärts erkennen, die Lichter in der Dämmerung gerade noch zu erkennen. Es wirkte wie eine Kleinstadt am Horizont, die nach Osten trieb.

      Er wandte sich zurück zur Bucht, zu der weißen Kirche auf dem gegenüberliegenden Arm, dem umzäunten Friedhof am Hang über den Häusern. Ein paar Jugendliche spielten auf dem Kai an der Church Side Straßenhockey, da dort die einzige ebene Fläche war, zu der sie Zugang hatten. Pilgrims Hund sprang mit den Spielern hin und her und musste den Ball aus dem Hafenbecken holen, wenn er durch einen missratenen Schuss über den Rand fiel. Sweetland zählte sieben oder acht Kinder, ungefähr die gesamte schulpflichtige Bevölkerung, abgesehen von Jesse, der kein Interesse an Sport hatte. Sweetland spähte wieder hinaus aufs Meer, die Sonne am Horizont, und wartete, bis sie im Ozean versank, bevor er wieder losging.

      Er bemerkte eine kleine Bewegung oberhalb des Pfades, sodass er anhielt, um durch das Gebüsch zu blicken. Loveless’ Hund rannte wieder frei herum. Eine Art Minipudelmischling, den Love­less in den Kleinanzeigen gefunden hatte, nachdem Sara gestorben war. Er hatte Sweetland gedrängt, mit ihm die Reise rüber nach Hermitage zu machen und den Hund auf dem Rückweg in seiner Manteltasche getragen. Voll ausgewachsen waren die drei Kilo jetzt


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