Sweetland. Michael Crummey

Sweetland - Michael  Crummey


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Als Jesse aufgegessen hatte, sang er ein bisschen, schmetterte die Details einer längst vergangenen Katastrophe heraus, obwohl es keine Vorführung sein sollte. Das Publikum war unwichtig, wie Sweetland wusste. Das Lied Teil einer privaten Landschaft, die gelegentlich in die Außenwelt hervorkam.

      Sweetland suchte in der Tasche nach einer Dose Pfirsiche, das einzige Obst, das der Junge aß. Nur aus der Dose, nur von Del Monte. Sweetland hatte zu Hause einen ganzen Schrank voll. Er öffnete den Deckel und reichte die Dose weiter, als das Lied zu Ende war.

      » Pop sagt, dass jetzt nur noch du und Loveless bleiben wollen «, sagte Jesse.

      Sweetland blickte zu dem Jungen, der sich auf die Dose konzentrierte und das Obst mit einem Plastiklöffel in den Mund schaufelte. Er hatte bisher kein einziges Mal über das Thema gesprochen. Sweetland war es so vorgekommen, als wäre die Umsiedlung niemals von der wunderlichen Verstandeslandschaft des Jungen registriert worden, obwohl dies inzwischen seit Jahren das Hauptgesprächsthema in der Bucht war. » Werde ich weggehen müssen? «, fragte Jesse. Er blickte noch immer in die Dose, während er aß.

      » Nicht, solange ich noch da bin «, sagte Sweetland.

      Der Junge schöpfte sich den Rest des Obstes in den Mund, kippte dann die Dose, um den Saft zu trinken. Es war ohnehin unmöglich zu sagen, wie er darüber dachte.

      » Also «, sagte Sweetland. » Du bist erst gestern mit der Fähre zurückgekommen, oder? «

      » Mom hat mich zum Arzt nach St. John’s gebracht «, sagte er. Als wäre das für Sweetland neu.

      » Und was hat dir der Arzt gesagt? Du bist zurückgeblieben, oder? Asozial? Abhängig? Psychisch labil? Psychopathisch? «

      » Nein «, sagte der Junge.

      » Nun, warum bist du dann den ganzen Weg zu ihm nach St. John’s gefahren? «

      Er zuckte mit den Schultern. » Keine Ahnung. «

      » Deine Mutter ist diejenige, die sich mal untersuchen lassen sollte. «

      » Sie geht auch zu ihm «, sagte Jesse. » Sie geht nach mir rein. «

      Sweetland lächelte. » Tut ihr aber herzlich wenig Gutes, oder? «

      » Ich weiß nicht «, sagte der Junge.

      Er war zu weit gegangen, dachte Sweetland, und sagte: » Beachte mich einfach nicht. « Als Entschuldigung.

      » Das tue ich auch nicht. «

      Er atmete laut aus, blickte ins Tal hinunter. Selbst Sweetland fand, dass es manchmal ein ganz schön langweiliges Leben für den Jungen war, eingesperrt in seinem Kopf. Umgeben von Greisen und ausgedachten Freunden. Und wie auf Kommando sagte Jesse: » Hollis ist einmal nach St. John’s gefahren, um den Arzt zu besuchen. «

      » Wo hast du denn davon gehört? «

      » Hollis hat es mir erzählt. «

      Sweetlands Bruder, über den der Junge sprach. Seit fünfzig Jahren oder länger tot. » Ist das so? «, fragte Sweetland.

      » Ein Jahr war er fast den ganzen Winter über in St. John’s. «

      Sweetland stand auf und fing an, ihre Sachen einzupacken. » Werd jetzt mal fertig «, sagte er. Ein Gefühl wie krabbelnde Käfer auf der Haut, das er nur loswurde, wenn er sich bewegte. » Wir haben Besseres zu tun, als hier herumzusitzen und zu quatschen. «

      Sie nahmen die Kaninchen in Sweetlands Küchenspüle aus. Jesse auf einem Stuhl, um sie an den Hinterpfoten hochzuhalten, während Sweetland mit einem Messer das Fell über den Knöcheln einschnitt, es dann über den ganzen Körper zog, Zenti­meter für Zentimeter. Mahagonifarbenes Fleisch und gemasert wie Holz. Die fleckigen Innereien rutschten in die Edelstahlspüle.

      Das Telefon klingelte und Jesse sprang vom Stuhl, um den Hörer abzunehmen, doch Sweetland hielt ihn zurück, da er befürchtete, es könnte Clara sein. » Wasch dich «, sagte er. » Es ist Zeit, zum Abendbrot nach Hause zu gehen. «

      Der Junge wusch sich die Hände unter dem Wasserhahn, während das Telefon noch eine Weile klingelte. Er sagte: » Holst du morgen Holz? «

      » Vielleicht. «

      » Ich könnte dir helfen. «

      » Bring einen davon runter für deinen Pop «, sagte Sweetland und steckte ein ausgenommenes Tier in eine durchsichtige Plastiktüte. Jesse streckte seine frisch gewaschenen Hände aus, als würde er ein Zeremonienschwert entgegennehmen.

      Nachdem er die Spüle gescheuert hatte, ging Sweetland durch den Anbau nach draußen und um das Haus herum zur Vorderseite. Blickte nach Osten und Westen, wie jemand, der sich eine Route überlegte, dann schlenderte er hinunter durch die Bucht. Er kam an Pilgrims Haus vorbei, spähte jedoch nicht in die Fenster, sondern huschte mit abgewandtem Blick weiter.

      Sweetland ging zu Duke Fewers Friseurladen, ein Schuppen mit einem einzigen Raum neben Dukes Haus. Darin stand, in den nackten Sperrholzboden geschraubt, ein Frisierstuhl, der so alt war wie Buckleys Ziege. Eine Wand war größtenteils verspiegelt, die andere mit verblichenen Fotos und vergilbten Zeitungsausschnitten beklebt. Ein summendes Neonlicht, ein Jackenständer, ein Waschbecken in der einen Ecke und in der anderen ein Holzofen, um den Raum im Winter zu beheizen. An der Wand unter den Fotos zwei Holzstühle und auf einem niedrigen Tisch dazwischen ein Schachbrett neben einem Stapel Zeitschriften – National Geographic und Time, Sports Illustrated und Maclean’s –, die dreißig Jahre alt und fast so lange nicht mehr angerührt worden waren.

      Duke saß mit der drei Tage alten Zeitung, die mit der gestrigen Fähre angekommen war, auf dem Frisierstuhl. Er hatte seine Beine einer Gottesanbeterin auf eine Weise übereinandergeschlagen, die kaum menschlich erschien. Blickte nicht auf, als Sweetland hereinkam und wirkte so, als wäre er mit halbgeöffneten Augen unter den schweren Lidern eingedöst, abgesehen von dem gewohnten Tremor in den Händen, der die Zeitung wackeln ließ. » Bin in einer Minute fertig «, sagte er schließlich, und Sweetland nahm Platz und blickte auf die aktuelle Partie auf dem Schachbrett.

      Duke hatte den Frisierstuhl in einem Gebrauchtwarenladen für Bauzubehör in St. John’s gekauft, als die Kabeljau-Bestände zusammenbrachen und die Regierung 1992 die küstennahe Fischerei verbot. Sweetland hatte damals versucht, es ihm auszureden. Zunächst einmal gab es in jener Zeit nur rund neunhundert Menschen, die in Chance Cove lebten, und jeder ließ sich die Haare in Reet Verges Küche schneiden, mit Ausnahme von Ned Priddle, der kahl wie eine Billardkugel war. Und außerdem hatte Duke noch nie in seinem Leben Haare geschnitten. Kein Mann und keine Frau waren dazu bereit, sich auf den Stuhl zu setzen und Duke mit der Schere an sich ranzulassen.

      Duke raschelte mit der Zeitung. » Pilgrim war vorhin da. Meinte, du und Jesse guckt draußen nach den Fallen. «

      » Haben ein paar an der Rückseite gefunden, über der Hütte der Priddles. «

      » Pilgrim sagt, Clara wäre nicht so glücklich darüber. «

      » Kann ich mir nicht vorstellen «, sagte Sweetland leise.

      Duke besaß ein Rasiermesser und eine Rasierschale und bot eine Rasur für einen Dollar fünfzig an. Soweit Sweetland wusste, hatte er auch für dieses Angebot keine Interessenten. Abschreibung, so nannte Duke es, als er das Firmenschild aufhängte. Obwohl sich alle fragten, was er da genau abschrieb. Mehr als zwanzig Jahre war er an sechs Nachmittagen die Woche hier gewesen, hatte den Boden gewischt und die Zeitung gelesen, und die Passanten durch das kleine Fenster neben der Tür beobachtet. Seine Ex-Frau hatte die Insel vor fünfundzwanzig Jahren verlassen, seine Kinder waren in verschiedene Ecken des Festlands gezogen. Er plauderte mit den Männern, die auf eine Tasse Tee vorbeischauten, ein Blick aufs Schachbrett, hier oder da ein Zug. Duke spielte weiß und verlor nie.

      » Wer war am Brett? «, fragte Sweetland.

      Duke reckte den Hals und blickte über die Schulter. » Das waren so sieben oder acht, seit du das letzte Mal hier warst. «

      »


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