Sweetland. Michael Crummey

Sweetland - Michael  Crummey


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ihn und verschwand in der Dämmerung. Loveless hatte den Hund wegen seines rabenschwarzen Fells Smut getauft, obwohl er nicht auf seinen Namen oder irgendwas anderes reagierte, sondern seinen eigenen wilden Weg ging, wenn Loveless ihn nicht mit einer Leine angebunden hatte. Manchmal war er die ganze Nacht draußen im Wald, folgte durch das Krummholz seiner Nase nach Rebhühnern und Moorhühnern und Kaninchen. Tauchte dann am Morgen an Loveless’ Tür auf, verdreckt und verfilzt und ausgehungert. Sweetland rechnete damit, dass der Hund eines Tages verschwinden würde, gerissen von einem Fuchs oder Adler, oder von Kojoten, falls die es jemals bis zur Insel schaffen würden.

      Auf seinem Weg kam er am Fenster vorbei, wo Queenie Coffin Rauch in die frische Luft blies. Sie rief ihn zu sich und er lehnte sich an den Fensterrahmen, während sie die Zigarette beendete. Sie trug ihren gesteppten Bademantel, die Haare in Lockenwicklern aufgedreht. Die alten, an die er sich von seiner Mutter erinnerte, die mit Haarklammern befestigt wurden. Lippenstift am Zigarettenfilter, ein aufgeklapptes Buch im Schoß. Queenie sah man nur selten ohne ein Buch in Reichweite. Sie war eine unersättliche Leserin von nicht sonderlich originellen Liebesromanen und Kriminalromanen, die so vorhersehbar waren, dass sie die letzten fünfzig Seiten selbst hätte schreiben können. Es war nur ein Mittel, um die Zeit totzuschlagen, sagte sie, um die Nachmittage zu verbringen, während der Fernseher lief und stummgestellt war.

      » Kühle Nacht «, sagte sie.

      » Ganz schön frisch. Hab gesehen, dass du die Woche deinen Garten eingesät hast. «

      » Ja, zertritt bloß nicht alles «, sagte sie.

      » Werden wahrscheinlich eh vor Kälte sterben, wenn sie rauskommen. «

      Queenie lachte und hustete feucht in ihre Faust. Eine Stimme rief aus der oberen Etage und sie hob für die Antwort den Kopf. » Ich rede nur mit meinem Freund «, rief sie.

      Sweetland konnte von oben das gedämpfte Geräusch des Fernsehers hören.

      » Hayward meint, du warst nicht bei der Gemeindeversammlung. «

      » Ich habe die Kartoffeln eingesät. Ich werde dir im Herbst eine Ladung beiseite stellen. «

      Sie winkte mit der Hand, in der sie die Zigarette hielt. » Im Herbst bin ich nicht hier. «

      » Das sagst du schon seit zwanzig Jahren oder länger, Queenie. «

      Als sie antworten wollte, fing sie laut und heftig zu husten an. Für Sweetland klang es, als wäre ihr ganzes Innerstes aufgeweicht. » Wird Zeit, damit aufzuhören «, sagte sie, als sie wieder zu Atem gekommen war. Sie nahm einen Zug und beugte sich zur frischen Luft, um den Rauch auszustoßen.

      Sweetland versuchte sich zu erinnern, wann er Queenie das letzte Mal außerhalb ihres Hauses gesehen hatte. Als ihre ältesten Kinder noch jung waren, dachte er, bevor sie das Innenklo eingebaut hatten – das war 1969 oder 1970, irgendwann nach der Mondlandung. Queenie hatte durch die körnigen Bilder in einer Life-Zeitschrift geblättert und anschließend damit ihrem Mann gewunken. Sie können einen Mann auf den Mond bringen, sagte sie ihm, da können wir verdammt noch mal auch ein Spülklo haben. Hayward argumentierte, dass alles nur ein Scherz sei, dass man die Bilder gefälscht und in irgendeinem Hinterhof in Hollywood aufgenommen habe. Die Hälfte der Leute in Chance Cove glaubte das. Doch Queenie bekam ihre Toilette.

      In all den Jahren danach war sie nicht mehr über die Schwelle ihres Hauses getreten. Sie stand nur in der offenen Tür oder saß am Fenster, rief die Leute für ein Gespräch zu sich, während sie rauchte. Sie hatte einen der Überlebenden vom Rettungsboot aufgenommen, als Sweetland sie angeschleppt hatte, hatte den Mann gewaschen und gefüttert und ihm ein Bett für die Nacht gegeben, in der sie in der Bucht blieben, doch sie war anschließend nicht mit runtergegangen, um zu sehen, wie er zum Schiff der Küstenwache gebracht wurde, als sie wieder wegfuhren. Drei ihrer Kinder hatten in der Kirche an der Landzunge geheiratet und sie hatte in ihrem besten Kleid in der Küche gewartet, bis die Hochzeitsgesellschaft hochkam, um die Fotos mit ihr im Wohnzimmer aufzunehmen. Eine städtische Krankenschwester kam zweimal im Jahr mit der Fähre raus, um nach ihrem Herzen zu horchen und sie vor den Zigaretten zu warnen. Jeder, der aus geschäftlichen Gründen oder für Familienbesuche die Insel verließ, brachte ihr zwei oder drei Liebesromane für ihre Bibliothek mit.

      » Wie ist dein Buch? «, fragte Sweetland.

      Sie hob das Kinn, als deutete sie auf etwas in der anderen Zimmerecke und seufzte. » Ich wünschte, sie würde mir nicht mehr diese Dinger schicken, die machen es nur noch schlimmer. «

      Ihre Tochter versuchte, ihren ungebildeten Geschmack beim Lesestoff mit etwas zu rehabilitieren, das Queenie » ernste « Bücher nannte – literarische Erzählungen, preisgekrönte Titel, Oprahs Auswahl. Sandra schickte sie ihr aus Edmonton mit ermutigenden Bemerkungen, die sie in die Buchdeckel kritzelte. Queenie rührte keins davon an, abgesehen von den wenigen, die von Neufundländern geschrieben wurden oder von Neufundland handelten. Die nahm sie als eine Art patriotischer Pflicht, obwohl es eine Qual für sie war, sie zu lesen. Sie seien alle deprimierend, sagte sie. Oder es passiere überhaupt nichts. Oder die Geschichte ergebe keinen Sinn. Die Hälfte der Bücher, die angeblich in Neufundland spielten, betrafen keine Gegend, die Queenie erkannte, und sie fühlte sich beleidigt, weil sie ihr Leben erobert hatten. Sie klangen alle so, als wären sie von Städtern geschrieben worden, pflegte sie zu sagen.

      Sie drehte das offene Buch auf ihrem Schoß um. » Du hast gehört, Hayward hat für das Paket unterschrieben. «

      » Ich wurde informiert. «

      » Bringt dich in eine schwierige Lage, nehme ich an. «

      » Ich habe noch Loveless «, sagte Sweetland, und beide lachten darüber. Er lehnte die Schulter an den Fenstersims. » Hätte nie gedacht, dass du Hayward unterschreiben lässt. «

      » Sandra war es, die es ihm eingeredet hat «, sagte sie. » Beschaffen uns eine Wohnung bei sich im Untergeschoss. Sie kann es gar nicht erwarten, uns drüben zu haben, sagt sie. « Queenie machte wieder dieses kehlige Geräusch, um anzudeuten, dass es für sie genauso wahrscheinlich war, den Fuß auf den Mond zu setzen wie nach Alberta.

      Sweetland hielt auch nicht viel davon. Jesse besuchte Queenie hin und wieder und dann sahen sie sich auf seinem Laptop gemeinsam Titanic an. Oder der Junge fragte sie nach ihrem Lieblingsbuch oder -film oder -lied, wann die Toilette eingebaut wurde oder wo ihre Kinder jetzt lebten und als was sie arbeiteten. Queenie hatte dieselben Fragen schon zehntausend Mal beantwortet, doch sie hatte unendliche Geduld für den Jungen. Seine monotone Befragung wie ein weiterer kleiner Raum, in den sie sich einzuschließen beschlossen hatte.

      » Ich bin hier in der oberen Etage geboren «, sagte sie. » Fünf Kinder habe ich in dem Raum bekommen, in dem ich geboren wurde. Hayward kann unterschreiben, was er will «, sagte sie und drückte die Zigarette in einem Ascher neben dem Stuhl aus. » Ich verlasse dieses Haus nur in einer Kiste. «

      Er war schon vor Tagesanbruch auf, saß mit Tee und dem Laptop an seinem Tisch, um den Wetterbericht zu hören. Die CBC plapperte im Hintergrund aus dem Radio, in Burin wurde eine Fabrik geschlossen, der Fischereiminister versprach Umschulungen und Beschäftigungsmaßnahmen für die Betroffenen.

      Er sollte das gottverdammte Radio einfach auslassen, dachte Sweetland, und eine Weile den Frieden genießen. Er ging raus in die Kühle, dann durch die Stille runter Richtung Kai, bis Pilgrims Hund anschlug, um sein Vorbeigehen zu vermerken.

      » Halt den Mund, Diesel «, sagte er. Der Hund zog an seiner Kette und bellte weiter, bis Sweetland das Wasser erreicht hatte. Es gab nur eine einzige Laterne auf dem Kai, an dem ein halbes Dutzend Boote vertäut war. Sweetland wandte sich nach links, vom Kai weg, und ging auf dem Arm hinaus zu seiner Steghütte. Es war ein ordentliches zweigeschossiges Gebäude, der obere Stock ein Schnurspeicher, wo sie früher einmal ihre Kabeljaunetze geknüpft hatten. Niemand wusste, wie alt das Gebäude war, doch Sweetland hatte es auf einem hundert Jahre alten Bild der Bucht am Ufer stehen sehen. Seit einer Generation wurde es nicht mehr dazu genutzt, Kabeljau zu säubern oder gesalzenen Kabeljau zu lagern, doch er hielt das Gebäude in makellosem Zustand, flickte und teerte das Dach im Frühling und


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