Eilandfluch. Marie Kastner

Eilandfluch - Marie Kastner


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Einschätzung über den weiteren Verlauf dieses wegweisenden Abends Recht behalten. Schon kurze Zeit später war Thorsten von Menschentrauben umgeben. Man fragte ihm schier Löcher in den Bauch, wenn auch zu seinem Ärger weniger über die bevorstehende Präsentation als vielmehr über den albernen Inselfluch. Eine hypernervöse ältere Dame wollte gar wissen, ob er hinreichend für Sicherheit gesorgt habe.

       Sicherheit, ha! … Gegen Geister etwa?

      Am liebsten hätte er diese schmallippige Fregatte mit eigenen Händen von der Klippe geworfen. Es wurde alles andere als einfach, die hagere Nervensäge wieder loszuwerden. Sie verbiss sich in das Thema wie ein Dackel in die nackte Wade.

      »Wieso ist eigentlich der Steg zur anderen Inselhälfte mit einer Kette abgesperrt? Es sind doch bereits zu beiden Seiten Geländer angebracht worden. Befürchten Sie etwa doch Unfälle übernatürlicher Ursache?«, fragte sie ungerührt. Inzwischen standen fünf weitere Gäste da, lauschten interessiert der Unterhaltung.

      Thorsten begann zu schwitzen, lockerte seinen Krawattenknoten. Er hasste es grundsätzlich, wenn sich etwas seiner Kontrolle entzog. Und das hier drohte zu entgleisen. Immer mehr Zuhörer scharten sich neugierig um ihn und die impertinente Dame im schwarzen Georgette-Kleid, dessen Schnitt an die Konturen einer Fledermaus erinnerte.

      Vermutlich kaschiert dieses dürre Gestell damit seine nicht vorhandenen Kurven, sinnierte er bissig. Kurzes graumeliertes Haar, schulterlange Ethno-Ohrringe aus irgendeinem Billigmaterial, eine Halskette aus grünlichen Halbedelsteinen, offener Magnetarmreif … diese grässliche Tante erfüllte für Sasse das Klischee einer typischen Emanze in den Wechseljahren.

      »Selbstverständlich nicht!«, entgegnete er eine Spur zu harsch.

      »Der Event findet auf dieser Seite statt, nicht dort drüben. Ich kann ja schlecht meine Servicekräfte ständig über diesen Steg jagen, um Getränke zu verteilen. Außerdem gibt es keinen Inselfluch, es hat ihn nie gegeben. Ich bin mittlerweile oft genug hier gewesen, um das einschätzen zu können«, fügte er ruhiger, aber mit Nachdruck hinzu. Seine Zuhörer hingen immer noch an seinen Lippen. Mist! Also musste er notgedrungen weitere Erklärungen anschließen.

      »Sehen Sie sich doch um. In den vergangenen Jahrhunderten legte man weniger Wert auf Sicherheit, beziehungsweise hatte man nicht dieselben Möglichkeiten wie heute, nahezu alle Eventualitäten auszuschließen. Manche der früheren Bewohner mögen vielleicht mit der Einsamkeit auf diesem Felsen nicht klar gekommen sein, was weiß ich. Kein Grund, Schauermärchen zu verbreiten. Tragische Unglücke geschehen überall, dasselbe gilt für Firmenpleiten. Selber schuld, wer nicht wirtschaften kann.

      Und nun Schluss mit diesem Nonsens. Dies ist immer noch eine wunderschöne Insel, die Sie heute zum Feiern und Genießen einlädt. Das Eiland hat wahrscheinlich nur auf den richtigen Eigentümer gewartet – meine Wenigkeit.«

      Mit einem verbindlichen Lächeln drehte er sich um und ließ die Fledermaus einfach stehen. Als guter Gastgeber musste er sowieso allen Anwesenden gerecht werden, konnte sich nicht zu lange mit einzelnen Gästen befassen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er allerdings, dass die blöde Kuh noch immer eifrig die Umstehenden belaberte. Scheinbar hatte sie ein williges Publikum für ihre lächerlichen Unkenrufe gefunden.

      Sasse suchte seine Freundin Mona, nahm sie beiseite.

      »Sag mal, kennst du diese schwarze Krähe da drüben? Das Weibsstück macht mir gerade alle Pferde mit den alten Gruselgeschichten über diese Insel scheu!«

      Mona grinste achselzuckend.

      »Mich ereilte vorhin das zweifelhafte Vergnügen, ihr zu begegnen. Sie ist mir auf der hinteren Terrasse in die Arme gelaufen, hatte auf dem Rückweg ins Haus unablässig fotografiert. Natürlich wollte ich wissen, wieso gerade dort, nachdem dieser abgelegene Teil der Villa der unattraktivste des ganzen Geländes ist. Ich bekam zur Antwort, dass sie für das Mystery-Magazin Zwischenweltbote schreibt.«

      »Auch das noch … eine dieser gestörten Esoterik-Tanten, die sich für moderne Hexen oder Geistermedien halten und ihre Mitmenschen von angeblich übersinnlichen Erfahrungen überzeugen wollen!«, stöhnte Thorsten abfällig.

      Zwei Veranstaltungstechniker forderten nun seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Während er mit ihnen den genauen Ablauf des Abends zum allerletzten Mal durchsprach, vergaß er den lästigen weiblichen Gast bereits wieder. Lediglich eine Dreiviertelstunde trennte ihn von der Präsentation, die zum größten Coup seiner bisherigen Karriere werden sollte.

      Er verspürte ein erregendes Kribbeln entlang der Wirbelsäule, das sich kontinuierlich verstärkte. Ein letzter Rundgang über die Insel, ein paar Hände schütteln – dann würde die Show steigen.

      *

      Laute Fanfarenstöße aus riesigen Lautsprechern signalisierten den Gästen, dass sie sich vollzählig vor der Villa einfinden sollten. Sie schlenderten herbei und ein jeder versuchte, den besten Blick auf die weiße Leinwand zu erhaschen.

      Die Sonne versank am Horizont, schien dekorativ ins Meer einzutauchen; ihre abnehmende Strahlkraft färbte die Szenerie in gelbliches Zwielicht. Der Zeitpunkt für den Veranstaltungsstart war absichtlich gewählt worden. Dichte Wolkenbänke aus Trockeneisnebel, die über das Festgelände waberten, verstärkten den mystischen Effekt noch um ein vielfaches. Plötzlich durchzuckten blutrote Laserstrahlen die Nebelschwaden, irrlichterten umher, um sich schließlich alle zugleich auf denselben Punkt, genau in der Mitte der Leinwand, zu konzentrieren.

      In ohrenbetäubender Lautstärke dröhnte der Song Human von Rag’n‘Bone Man aus den Boxen. Dazu lief ein stimmungsvolles Intro über die Leinwand. Es handelte von Menschen, die mit leuchtenden Augen glitzernde Geschenkpäckchen auswickelten, strahlenden Familienmitgliedern, die sich gegenseitig in die Arme fielen und Liebespaaren, die sich am Strand oder auf einer einsamen Parkbank mit kleinen Präsenten beglückten.

      Selbstverständlich war auch die schöne Mona in dieser heilen Friede-Freude-Eierkuchenwelt zu bestaunen, wie sie unter einem geschmückten Weihnachtsbaum, angetan mit einem cremefarbenen Spitzenkleid, vor Freude über ein Päckchen der Juwelierkette Christ hyperventilierte.

      Die rasante Bildersequenz endete mit der Grafik eines monströsen Geschenkpakets in Firmenfarben, welches seine Form am Ende in ein pochendes feuerrotes Herz verwandelte. Die goldgelbe Geschenkschleife dröselte sich auf, flog federleicht davon und kam mit einem weiteren Herz zurück, verflocht dieses mit dem ersten. Das Logo der neuen Internetplattform flimmerte auf, überblendete schließlich die verbundenen Herzen zur Gänze. Standbild.

      »Gott, ich hasse solche rührseligen Werbefilmchen! Die sind so offensichtlich auf Reibach ausgelegt! Die Einzigen, die sich nach solch einer Geschenkeorgie vor Freude in die Hosen pissen, sind doch die Verkäufer von all dem Konsumzeugs, oder? Gerade zu sämtlichen vom Kalender verordneten Zwangsfeiertagen wie Weihnachten. Scheiß Kapitalismus«, mokierte sich die Fledermausfrau. Sie sah sich Beifall heischend um. Vergeblich.

      »Pssst!«, mahnte ein neben ihr stehender Herr in Anzug und Fliege. »Außerdem ist das ohnehin nicht richtig, meine Liebe. In diesem Fall profitiert ebenso der Inhaber der Internetplattform, und das nicht schlecht. Genau darum geht es hier, also was regen Sie sich überhaupt auf?«, raunte er missbilligend.

      Anschließend widmete er sich kopfschüttelnd wieder seinem Sektglas und der wohlinszenierten Show. Rund um das Plateau wurden soeben die unzähligen Fackeln illuminiert, eine nach der anderen flammte auf.

      Thorsten Sasse betrat, selbstbewusst winkend wie ein Rockstar, die kleine Bühne vor dem zentralen Eingangsportal. Beifall brandete zur Bühne hinauf, die Leute reckten die Hälse.

      Es dauerte eine Weile, bis sich die Ovationen gelegt hatten. Immer wieder hob der Protagonist routiniert seine Hände, versuchte, etwas Ruhe in die Veranstaltung zu bringen. Endlich war es soweit, er konnte mit der eigentlichen Präsentation loslegen.

      Zwei Strahler erleuchteten die Banner zu seiner Linken und Rechten. Die bombastische Aufmachung erinnerte fast schon an Kundgebungen aus dem Dritten Reich oder eine Fahnenweihe.

      »Seit Anbeginn


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